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Stresstests für alle Unternehmen stärken die Kapitalmärkte

Börsen-Zeitung, 25.9.2020 Finanzkrisen bringen häufig eine Neubewertung des gesellschaftlichen Zwecks von Finanzmärkten mit sich. Nach der Finanzkrise 2008 bezeichnete Adair Turner, der damalige Chef der britischen Finanzmarktaufsicht FSA, einige...

Stresstests für alle Unternehmen stärken die Kapitalmärkte

Finanzkrisen bringen häufig eine Neubewertung des gesellschaftlichen Zwecks von Finanzmärkten mit sich. Nach der Finanzkrise 2008 bezeichnete Adair Turner, der damalige Chef der britischen Finanzmarktaufsicht FSA, einige Elemente des Derivatemarktes als “frei von gesellschaftlichem Nutzen”. In den elf Jahren, die seit dieser Äußerung vergangen sind, hat sich die Sorge um den gesellschaftlichen Nutzen der Finanzmärkte von Randprodukten hin zum eigentlichen Kern, den Aktien, verlagert. Größere Aufmerksamkeit wird heute der Funktion von Aktien in unserem System des Finanzkapitalismus zuteil. Diskutiert wird etwa die Frage, wie sie wirksamer zur Unterstützung der Realwirtschaft eingesetzt und wie die Interessen von Aktionären und Interessengruppen gleichermaßen berücksichtigt werden können. Gesellschaftlicher ZweckZiel der Politik ist es, diese Fragen auf praktische Weise zu beantworten. Fidelity International ist der festen Überzeugung, dass die Kapitalmarktunion der Europäischen Union und die Empfehlungen der “High Level Forum”-Gruppe eine echte Chance bieten, die Interessen von Finanzwirtschaft und Gesellschaft zum Wohle der europäischen Wirtschaft zusammenzuführen. Es geht darum, der Kapitalmarktunion einen gesellschaftlichen Zweck zu geben.In diesem Zusammenhang spielt die finanzielle Resilienz der Privathaushalte eine zentrale Rolle. Die Aufgabe eines in die Gesellschaft eingebetteten Kapitalmarktes besteht darin, die Ersparnisse der Haushalte der Realwirtschaft zur Verfügung zu stellen, damit sie von dieser genutzt werden und eine auskömmliche Rendite erzielen können. Daran erinnert uns auch die Kapitalmarktunion mit der ihr eigenen Struktur – mit Haushalten auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten auf der einen und der Wirtschaft mit ihrem Finanzierungsbedarf auf der anderen Seite. Bessere Finanzbildung nötigDaraus erwächst das Bestreben, die Beteiligung von Kleinanlegern am Wirtschaftswachstum der EU zu fördern, indem aus Gehaltsempfängern Vermögensinhaber werden. Damit dies geschehen kann, ist eine bessere Finanzbildung dringend erforderlich. Sie hilft den Bürgern zu verstehen, wie sie ihre Verbindlichkeiten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Vermögenswerten in Einklang bringen können.Eine größere Anlegerbasis benötigt ein breiteres und umfassenderes Angebot an Wertpapieren von Unternehmen, aus dem sie auswählen kann. Daher ist die Unterstützung durch eine Kapitalmarktunion und das High Level Forum für eine stärkere Beteiligung kleiner und mittelgroßer Firmen (KMU) an den Kapitalmärkten, entweder über Solvency II, Basel III oder dem European Long-Term Investment Funds (ELTIF), ein unverzichtbarer Eckpfeiler. Zugang zu Kapital erleichternKMU sind auf nationaler Ebene eine der treibenden Kräfte des Wirtschaftswachstums. Verbessert man ihren Zugang zu Finanzmitteln, schafft das Arbeitsplätze und kurbelt Investitionen an. Um sie zum Gang an die Börse zu ermutigen, sollten ihnen gewisse Erleichterungen bei der eigentlich für größere Unternehmen gedachten Marktmissbrauchsverordnung gewährt werden. Ein fundierter Plan zur stärkeren Beteiligung an den Aktienmärkten würde also nicht nur die finanzielle Resilienz der Haushalte, sondern auch der Unternehmen stärken. Eine veränderte Zusammensetzung der Finanzierungsstruktur kleiner und mittlerer Unternehmen zugunsten von Eigenkapital macht sie weniger anfällig für plötzliche Kredit- und Liquiditätsengpässe. Mehr Resilienz gebotenWenn die Interessen der Gesellschaft und der Unternehmen über Eigenkapital enger miteinander verbunden werden sollen, dann ist eine größere Widerstandsfähigkeit Letzterer dringend geboten. Denn anfällige Unternehmen bringen sowohl ihre Mitarbeiter und Investoren als auch das Wirtschaftssystem als Ganzes in Bedrängnis. Die Kapitalmarktunion beinhaltet Elemente, die es Vermögensverwaltern ermöglichen, Unternehmen über ihre Kapitalallokation oder Stewardship-Initiativen dazu zu bewegen, ihre Geschäftsmodelle krisenfester zu machen. Die Vorschläge des High-Level-Forums zum Thema Aktienbeteiligung sind ein Schritt in die richtige Richtung – ebenso wie die Vorschläge für eine verstärkte KMU-Forschung.Aber es besteht durchaus noch weiteres Verbesserungspotenzial. Bei der Schaffung eines neuen Kapitalsystems muss alles getan werden, um die systemischen Risiken zu mindern, die es gefährden könnten. In diesem Zusammenhang kommen wir noch einmal auf das Jahr 2008 zurück, denn die damalige Reaktion der Politik liefert eine Blaupause für Modelle zur Stärkung der finanziellen Widerstandsfähigkeit.Politische Entscheidungsträger könnten die Vorschriften zur Sanierungs- und Abwicklungsplanung von Banken und Versicherern nutzen, indem sie die Kapitaladäquanzvorschriften beiseitelassen, aber zugleich versuchen, die gleiche Kultur der Resilienz auch in Nichtfinanzunternehmen zu verankern. Das könnte Maßnahmen angefangen von Stresstests bis hin zur jährlichen Berichterstattung betreffen.Die Kapitalmarktinitiative präzisiert den gesellschaftlichen Zweck von Aktien, unterstützt durch die zwei Säulen einer stärkeren Partizipation von Kleinanlegern an den Aktienmärkten und einer vermehrten Emission von Aktien seitens der Unternehmen. Fragile Unternehmen bergen jedoch die Gefahr, die sich selbst verstärkende positive Entwicklung aus Wertschöpfung und zunehmender Wirtschaftsaktivität zu bremsen und das Vertrauen vorsichtiger Kleinanleger zu erschüttern. Deshalb darf die Politik eine dritte Säule nicht außer Acht lassen: die Resilienz der Unternehmen. Christian Staub ist Europa-Chef von Fidelity International. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.—–Von Christian StaubDie Kapitalmarktunion beinhaltet Elemente, die es Vermögensverwaltern ermöglichen, Unternehmen dazu zu bewegen, ihre Geschäftsmodelle krisenfester zu machen.