Stromversorgung und Kühlwasser
Wer hätte das vom perfekt organisierten Japan gedacht! Bald zwei Wochen nach dem Wirbelsturm “Faxai” sind fast 56 000 Haushalte in der Großstadt Chiba unmittelbar östlich der Hauptstadt Tokio immer noch ohne Strom. Die Reparaturarbeiten dauern nach Angaben des zuständigen Versorgers Tepco sogar bis zum 27. September. Der Taifun hatte Strommasten umgerissen, was auch Wasserwerke lahmlegte. Deswegen mussten sich fast 17 000 Haushalte aus Tankwagen versorgen. Das Grundproblem dahinter: Japans Infrastruktur stammt größtenteils aus der Zeit des Wirtschaftswunders. Für die Erneuerung müsste Japan laut einer offiziellen Schätzung bis 2050 jedes Jahr 6,5 Bill. Yen (53 Mrd. Euro) zusätzlich ausgeben.Dieser Modernisierungsbedarf auch beim Stromnetz beißt sich möglicherweise mit dem zunehmenden Wettbewerb in diesem Wirtschaftssektor. Am Dienstag erfolgte der nächste Schritt: An der Tokyo Commodities Exchange begann der Handel mit Terminkontrakten auf den Strom. Nur jeder sechste der 600 neugegründeten Stromhändler hat bisher den Geschäftsbetrieb aufgenommen, weil der Strompreis an der Strombörse unberechenbar heftig schwanken kann. Über die Terminkontrakte könnten sich die Neulinge gegen Preisspitzen absichern. Allerdings hält sich das Interesse bislang in Grenzen, weil die neun regionalen Versorger das Geschäft mit Strom weiter dominieren.Man kann diese Marktmacht auch positiv sehen. Dadurch verdienen die Stromriesen wenigstens genug, um den Stillstand der meisten ihrer Atommeiler sowie die geplanten Stilllegungen von 24 Anlagen zu finanzieren. Branchenriese Tepco muss noch die exorbitanten Kosten der Sanierung des AKW Fukushima Daiichi schultern. Daher befürchten Beobachter, dass Tepco bei der Wartung und Erneuerung des eigenen Stromnetzes spart. Die Tepco-Strommasten sind nämlich im Schnitt schon 42 Jahre alt. Womit wir wieder bei dem peinlichen Stromausfall in Chiba wären.Apropos Fukushima. Knapp ein Jahr vor den 2020 in Tokio anstehenden Olympischen Spielen gerät das zerstörte Atomkraftwerk wieder in die Schlagzeilen und bringt Japans Regierung in eine Zwickmühle. Denn Betreiber Tepco stellte ihr ein Ultimatum, das drängendste Problem bei der Stilllegung der Atomruinen endlich zu lösen. Die Speicherkapazität für verstrahltes Kühlwasser sei spätestens 2022 erschöpft, stellte Tepco klar und setzte sich für das Einleiten des Wassers in den Pazifik ein – es geht um 1 000 Tanks mit 1,1 Mill. Kubikmeter. Andere Lösungen seien “schwierig”, sagte Tepco. Diesen Standpunkt vertrat auch der bisherige Umweltminister Yoshiaki Harada.Doch das Ultimatum wird die Regierung vorerst nicht zum Handeln bringen. Denn bei der Olympiavergabe im September 2013 hatte Premierminister Shinzo Abe, damals schon im Amt, den Zuschlag für Tokio auch aufgrund seiner Aussage erhalten, die Atomruinen in Fukushima seien unter Kontrolle. Daher könnte er eine Einleitung des Wassers vor den Spielen kaum erklären. Dann käme es sofort zu einer Debatte über die Gesundheit vieler Athleten, etwa der Surfer, die in Tsurigasaki am Pazifik 250 Kilometer südlich des AKW Fukushima um Medaillen kämpfen.In dieser Lage hat Abe vergangene Woche den Jungpolitiker Shinjiro Koizumi als Umweltminister und Staatsminister für Atomkraft-Katastrophenschutz in sein umgebildetes Kabinett berufen. Damit ist der populäre Sohn des früheren Premiers Junichiro Koizumi für die Atomaufsichtsbehörde und die Wasserfrage zuständig. Koizumi habe einen Kelch mit radioaktivem Wasser erhalten, schrieb die “Financial Times” nach seiner Ernennung. Denn Regierungschef Abe hat den Schachzug gut kalkuliert. Koizumi genießt – anders als Atomkraftfreund Abe und AKW-Betreiber Tepco – in Fukushima viel Vertrauen, das er sich durch zahlreiche Besuche als früherer Staatsminister für den Wiederaufbau erworben hat.Seine Frau Christel Takigawa, eine bekannte Nachrichtenmoderatorin, brachte zudem einen adoptierten Golden Retriever aus Fukushima mit in die im August geschlossene Ehe. Mit diesem Vertrauenskapital soll Koizumi offenbar die Einleitung des Kühlwassers in den Pazifik durchsetzen.