GASTBEITRAG

Systemwechsel statt Umverteilung

Börsen-Zeitung, 10.6.2014 Thomas Piketty spricht mit seinem Buch "Capital in the Twenty-First Century" einen wunden Punkt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an: die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung vor allem in den USA....

Systemwechsel statt Umverteilung

Thomas Piketty spricht mit seinem Buch “Capital in the Twenty-First Century” einen wunden Punkt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an: die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung vor allem in den USA. Datenfülle und Qualität der Analysen machen sein Buch durchaus gleichwertig zum Bestseller “This Time is Different” von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff. Beide haben ebenfalls mit gutem Gespür für Timing das Standardwerk zu Finanzkrisen pünktlich zum Höhepunkt der Krise 2009 vorgelegt. Dabei liegt die Stärke von Piketty mehr in der Datenaufbereitung als in der analytischen Begründung der Ursachen und der empfohlenen politischen Rezepte.Piketty hat sich die Mühe gemacht, historische Daten aufzubereiten, um die Entwicklung von Vermögen und Vermögensverteilung über Jahrhunderte nachzuvollziehen. Dabei fand er heraus, dass das Gesamtvermögen in einer Volkswirtschaft zwischen dem Vier- und Siebenfachen der jährlichen Wirtschaftsleistung liegt. Dies ist einleuchtend, ist doch der Wert einer Volkswirtschaft wie bei einer Unternehmensbewertung der abgezinste Wert der zukünftigen Erträge. Phasen tiefen Zinsniveaus – wie heute – führen bei gegebenen Einnahmen zu entsprechend höheren Vermögenswerten und umgekehrt. Der Schwerpunkt bei Piketty liegt jedoch bei der Frage der Vermögensverteilung. Hier zeigen seine Analysen, wie es über Jahrhunderte immer wieder zu zunehmender Vermögenskonzentration gekommen ist und diese dann durch Kriege, Währungsreformen und Naturkatastrophen nivelliert wurde. Für heute diagnostiziert Piketty eine Vermögenskonzentration in den USA, wie sie zuletzt im Europa des 19. Jahrhunderts festzustellen war. Eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe besitzt den weitaus größten Teil des Vermögens und damit einhergehend politische Einflussmöglichkeiten.Was führt zu dieser ungleichen Vermögensverteilung? Laut Piketty gibt es dafür verschiedene Ursachen. So werde immer mehr Vermögen vererbt und damit die bestehende Vermögensverteilung fortgeschrieben. Die Politik habe auf früher übliche Verfahren der Umverteilung verzichtet, vor allem auf hohe Einkommen- und Vermögensteuern.Hauptursache ist aus Sicht von Piketty jedoch, dass die Kapitalverzinsung über der Wachstumsrate der Wirtschaft liege, was zwangsläufig zu einem Anschwellen von Vermögen und Vermögenskonzentration führen müsse. Obwohl diese Hypothese durch die Daten im Betrachtungszeitraum gestützt wird, muss sie dennoch in Frage gestellt werden. Läge die Kapitalrendite wirklich dauerhaft über dem Wachstum der Wirtschaft, müsste die Gewinnquote, logisch zu Ende gedacht, auf 100 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Allein dieser Hinweis sollte zeigen, dass es eben nicht so ist. Denn die Rendite für Kapital würde zwangsläufig sinken, weil es nicht mehr die erforderliche Nachfrage gäbe, um das Warenangebot abzunehmen. Temporär kann die Kapitalrendite nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Konsumenten statt aus Einkommen auf Kredit konsumieren. Genau dies ist in den vergangenen 30 Jahren geschehen. Ein Vermögenswachstum, wie in den letzten Jahrzehnten erlebt, wäre ohne entsprechendes Schuldenwachstum gar nicht realisierbar gewesen. Während in den USA die Politik die Verschuldung der Privathaushalte gefördert hat, haben in Europa die Staaten Schulden angehäuft, um über Ausgaben und Sozialleistungen die Wirtschaft zu stimulieren.Dies macht deutlich, dass Vermögen und Schulden zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn es nicht mehr möglich ist, Zusatznachfrage durch neue Schulden zu generieren, muss es zu einem deutlichen Rückgang von Wirtschaftsleistung und Kapitalrenditen kommen. Auf Zeiten mit hohen Kapitalrenditen folgen dann zwangsläufig Zeiten mit niedrigen – vermutlich sogar negativen – Kapitalrenditen. Mit Blick auf die heutige Wirtschaftslage könnte man die von einigen Beobachtern beschriebene “säkulare Stagnation” entsprechend erklären. Es finden sich keine attraktiven Investitionsmöglichkeiten für die Ersparnisse (= Vermögen) und folglich sinkt der Zins immer tiefer. Bestehende Anlagen mögen noch hohe Renditen abwerfen. Doch ein Ausbau der Kapazitäten zu gleicher Rendite ist nur noch in wenigen Branchen möglich. Gefahr für politische DebatteKonsequent fordert Piketty eine stärkere steuerliche Belastung der Vermögen und mehr Ausgaben für Bildung. Im Idealfall wünscht er sich eine global koordinierte, progressive Vermögensteuer, erklärt aber auch, dass er die Realisierungswahrscheinlichkeit für gering hält.Dennoch droht hier Gefahr in der politischen Debatte. Mit den guten Argumenten gegen die zunehmende Vermögenskonzentration führt Piketty die Politik in Versuchung, beide Probleme auf einen Schlag zu beseitigen: Vermögensbesteuerung zur Lösung der Schuldenprobleme. Aus Sicht von Piketty fairer als Inflation und sicherlich gegenüber ungeordneten Pleiten zu bevorzugen. Verführerisch ist diese Verknüpfung, weil sie der Politik die Möglichkeit bietet, vom eigenen Versagen abzulenken. Denn ohne die fehlgeleitete Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte wäre es gar nicht zu Rekordschulden, Rekordvermögen und Ungleichverteilung gekommen: Beginnend mit der Aufhebung der Goldbindung des Dollar und der Liberalisierung der Finanzmärkte wurde eine weitgehend ungebremste Kreditvergabe des Bankensystems ermöglicht. Hilfestellung gaben die Zentralbanken, die das Zinsniveau immer weiter nach unten trieben. Damit konnten stagnierende Einkommen angesichts zunehmenden internationalen Wettbewerbs durch günstige Kredite ausgeglichen werden.Wie immer profitieren von der Schaffung neuen Geldes jene am meisten, die als Erste den Zugriff auf das neu geschaffene Geld haben: Banken, Hedgefonds und die Private-Equity-Branche. Der Ersatz von Eigenkapital durch billige Kredite ergab den gewünschten “leverage” für die eigenen Investitionen. Kein Wunder, dass den Hitlisten der reichsten Menschen überproportional Vertreter dieser Branchen angehören. Zusätzlich befördert von einer Politik, die Kapitalgewinne geringer besteuert als Arbeitseinkommen.Wichtiger als Vermögensabgaben, die die Grundprobleme nicht antasten, ist die Verbesserung von Aufstiegschancen und Wirtschaftswachstum. Sicher kann auch eine moderate Umverteilung einen Beitrag für eine gleichmäßigere Vermögensverteilung leisten. Entscheidend ist jedoch eine Rückbesinnung auf wichtige ökonomische Grundsätze. Schulden sind nichts anderes als Verzicht auf künftigen Konsum. Gute Wirtschaftspolitik verzichtet deshalb auf die kurzfristige Stimulierung zugunsten von langfristig wirksamen Maßnahmen, die Bildung, Innovation, Regulierung des Nötigen und Investitionen in den Kapitalstock einer Volkswirtschaft zum Kern haben. Radikales DenkenAuch unser Geldsystem ist zu hinterfragen. Ungebremstes Kreditwachstum führt nicht nur zu Schulden und (Schein-)Vermögen, sondern, wie wir in den letzten Jahren leidvoll erlebt haben, zu existenziellen Finanzkrisen. Das Wiederaufleben der Diskussion um das Thema “Vollgeld”, auch getrieben über die dazu anstehende Volksabstimmung in der Schweiz, ist ein ermutigendes Zeichen. Selbst die Kommentatoren der “Financial Times” befürworten die Idee einer Unterscheidung in Geld als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel (100 % Zentralbankgeld) und Investitionen in renditegenerierende, aber dafür risikobehaftete Assets. Es bleibt zu befürchten, dass es noch (mindestens) einer weiteren Krise bedarf, bis wir bereit sind, derart radikal zu denken. Und damit bleibt auch Piketty nur ein weiterer, wenngleich sehr guter, Puzzlestein in der Diagnose der Probleme der Weltwirtschaft.—-Daniel Stelter, Makroökonom und Strategieberater