Target-Salden: Was uns die deutsche Wirtschaftsgeschichte lehrt
Seit Hans-Werner Sinn die Target-Salden zur “Target-Falle” erklärt und darin “Gefahren für unser Geld und unsere Kinder” ausgemacht hat, wissen nicht nur Finanzexperten mit dem Begriff etwas anzufangen: Er beschreibt Verbindlichkeiten oder Forderungen der Zentralbank eines Mitgliedsstaates der Eurozone gegenüber dem europäischen Zentralbanksystem respektive der Europäischen Zentralbank (EZB). Die jüngsten Statistiken aus der Eurozone zeigen tatsächlich, dass die europäischen Krisenländer im Zuge der Währungskrise hohe Zahlungsverpflichtungen angehäuft haben (Abbildung 1). Als Pendant dazu verbuchen andere Länder wie Deutschland und die Niederlande mittlerweile hohe Forderungen gegenüber dem System.Das ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass sich in den hohen Salden eine Funktionsstörung an den europäischen Interbankenmärkten reflektiert. Insoweit mangels grenzüberschreitenden Vertrauens europäische Finanzierungen nicht über die Banken abgewickelt werden, steigt kompensatorisch der Zahlungsausgleich über das Eurosystem an, damit erhöhen sich die entsprechenden Target-Salden. Aber wie gefährlich sind diese Target-Salden tatsächlich? Müssen wir uns deshalb um unser Geld und unsere Kinder sorgen? Handelt es sich um eigenständige Risiken, die bei Fortbestand der Währungsunion eine besondere Vorsorge verlangen? Oder sind sie nur ein Symptom der tieferliegenden Krise?Um der Antwort näher zu kommen, hilft ein Blick in die Geschichte. Denn in der Nachkriegszeit gab es in Deutschland bis 1957 ebenfalls ein zweistufiges Zentralbanksystem ähnlich dem aktuellen in der Eurozone: Jedes Bundesland hatte ab 1947 eine eigenständige Landeszentralbank, dem gegenüber stand ab dem 1. März 1948 die Bank deutscher Länder als übergeordnete Zentralbankinstitution. Die Landeszentralbanken waren damals rechtlich selbstständig und hatten die Aufgabe den Geldumlauf zu regeln, das alleinige Noten- und Münzausgaberecht lag hingegen bei der Bank deutscher Länder. Von 1948 bis 1956 tätigte jede Landeszentralbank bargeldlosen Zahlungsverkehr mit den anderen Landeszentralbanken und der Bank deutscher Länder, der sich aus der Verrechnung von Überweisungen und Schecks zusammensetzte. Um herauszufinden, wie groß die Ungleichgewichte in diesem bargeldlosen Verkehr waren, bietet es sich an, die Überweisungen an und von anderen Landeszentralbanken zu summieren und die Salden des Scheckeinzugs zu bilden. Anschließend werden diese beiden Salden zum Verrechnungssaldo der Landeszentralbanken addiert. Hoher ForderungsüberschussAufgrund der Datenlage ist das für die Landeszentralbanken von Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Berlin möglich (Abbildung 2). Dort zeigt sich ein beträchtliches Ungleichgewicht: Baden-Württemberg hatte demnach in allen zur Verfügung stehenden Jahren einen massiven Forderungsüberschuss gegenüber dem Zentralbanksystem von – in der Spitze – fast 2 Mrd. D-Mark jährlich. Auf der anderen Seite hatte Nordrhein-Westfalen die höchsten Verbindlichkeiten: Für 1955 lag der jährliche Verrechnungssaldo bei einem Minus von über 3 Mrd. D-Mark, wobei es auch in drei der fünf Jahre zuvor hohe Verbindlichkeiten gab. Bei Schleswig-Holstein, Berlin und Bayern fielen die Ungleichgewichte in den einzelnen Jahren nicht so gravierend aus.Dieses Bild ändert sich jedoch, wenn die Verrechnungssalden über alle Jahre aggregiert betrachtet werden. Denn die Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Zentralbanksystem wurden ins folgende Jahr übertragen. Entsprechend ist die aggregierte Größe die eigentlich relevante. Neben Nordrhein-Westfalen mit Verbindlichkeiten von 6,7 Mrd. D-Mark im Jahr 1955 hatte demnach auch Bayern bis dahin beachtliche 2,8 Mrd. D-Mark angehäuft. Dem gegenüber standen Forderungen Baden-Württembergs an das Zentralbanksystem von fast 7,5 Mrd. D-Mark.Doch diese absoluten Zahlen sind nach so vielen Jahren mit jährlicher Inflation und neuer Währung kaum einzuordnen. Deshalb hilft ein Blick auf die Relation der Verrechnungssalden zu der Bilanzsumme der einzelnen Landeszentralbanken: Sowohl Bayern als auch Nordrhein-Westfalen hatten bis 1956 mehr als das Dreifache der Bilanzsumme ihrer Notenbank an Verbindlichkeiten angehäuft. Auf der anderen Seite erreichten die Forderungen von Baden-Württemberg gegenüber dem Zentralbanksystem eine Höhe von fast 900 % der Bilanzsumme der eigenen Zentralbank. Früher stärker ausgeprägtGeht man bei den Target-Salden nach dem gleichen Schema vor, zeigt sich zweierlei: Zum einen hat kein Land der Eurozone viel mehr als die Hälfte der Bilanzsumme seiner nationalen Zentralbank an Verbindlichkeiten zum Euro-Zentralbanksystem aufgebaut. Zum anderen gibt es die relativ höchsten Forderungen gegenüber dem Zentralbanksystem in Luxemburg und Deutschland. Doch liegen auch diese Forderungen weit unter der Bilanzsumme der jeweiligen nationalen Zentralbank. Deutschland liegt mit seinen Forderungen bei 56 %, Luxemburg bei 87 % der Bilanzsumme der eigenen Notenbank. Gemessen an der Bilanzsumme waren Forderungen und Verbindlichkeiten im Zentralbanksystem vor 60 Jahren also deutlich ungleicher verteilt und stärker ausgeprägt als heute.Als 1957 ein einstufiges System das zweistufige Zentralbanksystem in Deutschland ersetzte, verschmolzen die Landeszentralbanken inklusive der Berliner Zentralbank mit der Bank deutscher Länder zur Bundesbank. Das individuelle Vermögen der Landeszentralbanken und der Berliner Zentralbank – einschließlich der Schulden – gingen als Ganzes auf die Bank deutscher Länder über. Aufregung nicht angebrachtDie Eröffnungsbilanz der Deutschen Bundesbank wurde auf den 1. Januar 1957 festgesetzt. Ihr alleiniger Anteilseigener wurde der Bund. Die Landeszentralbanken blieben bestehen, allerdings nur noch als rechtlich unselbstständige regionale Hauptverwaltungen. Trotz der nachweislich starken Ungleichgewichte im damaligen Zentralbanksystem hatte der Neustart 1957 keinen negativen gesamtwirtschaftlichen Effekt. Und das, obwohl alle Forderungen und Verbindlichkeiten einfach gestrichen wurden. Demnach hat der Wegfall derartiger buchhalterischer Posten keine dramatischen Auswirkungen auf das Finanz-, Wirtschafts- und Zentralbanksystem, wenn der Wegfall mit einer geänderten Rechtsstruktur einhergeht.Dieser historische Befund relativiert die “Gefahr für unser Geld und unsere Kinder”, die angesichts der Target-2-Salden aktuell heraufbeschworen wird: In der Tat zeigen die Target-Salden zwar bestehende, teils erhebliche Ungleichgewichte in der Eurozone auf. Ihre realen Risiken scheinen indes aber längst nicht so immens zu sein, wie teilweise dargestellt. Nur bei einem Zerfall der Währungseinheit oder dem Austritt einzelner Staaten müssten die entsprechenden Forderungen und Verbindlichkeit politisch verhandelt werden, wobei ein Forderungsausfall nicht auszuschließen wäre.Für sich genommen aber ist die Aufregung nicht angebracht. Risiken, die durch einen Organisationsbeschluss beseitigt werden können, haben eine andere Qualität als verbriefte Forderungen und Verbindlichkeiten. Wie übrigens im Fall des Europäischen Rettungsschirms ESM, bei dem die Euro-Staaten inklusive Deutschland reale Ausfallrisiken eingehen.Der Beitrag entstand unter Mitarbeit von Dr. Henry Goecke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.—-Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln