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The Spitzenkandidat

Von Detlef Fechtner, Frankfurt Börsen-Zeitung, 25.1.2017 Seit drei Jahren ist die Liste unübersetzbarer deutscher Worte - wie "German Gemütlichkeit" oder "Kindergarten teacher" - um einen Eintrag reicher: "the Spitzenkandidat". Denn vor der...

The Spitzenkandidat

Von Detlef Fechtner, FrankfurtSeit drei Jahren ist die Liste unübersetzbarer deutscher Worte – wie “German Gemütlichkeit” oder “Kindergarten teacher” – um einen Eintrag reicher: “the Spitzenkandidat”. Denn vor der Europawahl 2014 gelang es dem Sozialdemokraten Martin Schulz, die Rolle der Spitzenkandidaten der verschiedenen Parteien aufzuwerten: Schulz beanspruchte für den Wahlsieger das Amt des EU-Kommissionschefs – und fand für diese Forderung schließlich so viel öffentliche Unterstützung, dass er sich damit durchsetzte. Ironie des Schicksals, dass Schulz allerdings nicht selbst zum Zuge kam, sondern den Weg für seinen Kontrahenten Jean-Claude Juncker ebnete. Immerhin kann er aber für sich in Anspruch nehmen, die Macht des EU-Parlaments ebenso gestärkt zu haben wie das Ansehen seiner Partei.Nun könnte sich Geschichte wiederholen. Der 61-jährige Rheinländer soll erneut als Spitzenkandidat antreten – dieses Mal nicht bei der Europawahl, sondern bei der Bundestagswahl. Vieles spricht dafür, dass er abermals am Ende nur auf Rang 2 landet – und aufs Neue die Christdemokraten das Rennen machen. Und um die Analogie noch weiter zu treiben: Gut möglich, dass die Kanzlerkandidatur von Schulz und die Übernahme des Parteivorsitzes sich trotzdem erneut für die Sozialdemokraten bezahlt machen. Denn Schulz hat das Zeug, um der SPD zumindest wieder zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen – auch wenn er im Duell gegen Merkel verliert.Sigmar Gabriel hat in dem gestern bekannt gewordenen Interview die Kriterien für den Job des Kanzlerkandidaten der SPD definiert: “Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen.” Was die erste Bedingung betrifft, so zeigen die bisherigen Umfragen, dass Schulz als der aussichtsreichere Kandidat gilt. Und was das zweite Kriterium angeht, so hat der frühere Bürgermeister des Aachener Vororts Würselen in den vergangenen Jahren wenig Zweifel an seiner Leidenschaft für die Politik gelassen. KämpfernaturDer passionierte Fan des 1. FC Köln, der es in seiner Jugend fast zum Profi gebracht hat, präsentiert sich seit jeher als Kämpfer – und geht, um eine Fußball-Binse zu bemühen, auch dahin, wo es wehtut. Sein öffentlicher Schlagabtausch mit Italiens einstigem Premier Silvio Berlusconi, sein forscher Auftritt in der Knesset, sein Rauswurf eines rassistisch argumentierenden Kollegen aus dem EU-Parlament – es gibt viele Beispiele dafür, dass Schulz die Austragung von Konflikten nicht scheut und hartnäckig für seine Überzeugungen eintritt. Gerade diese Charakterzüge dürften ihm im Wahlkampf Sympathien einbringen – zumal in Zeiten, in denen bisherige Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten sind und deshalb der leidenschaftliche Einsatz für Werte, Grundsätze oder Überzeugungen an Wertschätzung wieder gewinnt.Allerdings: Es wäre falsch, Schulz auf den Klare-Kante-Redner und den streitfreudigen Provokateur zu reduzieren, als der er sich in Konfliktsituationen präsentiert. Denn die eigentliche politische Leistung von Schulz ist seine bemerkenswerte Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren und politischen Druck aufzubauen, um Vorhaben durchzusetzen. Nicht nur Parteigenossen, sondern auch Kontrahenten bescheinigen dem gelernten Buchhändler das Talent, Streitpunkte klug und geduldig auszuverhandeln und sich dabei nicht vom Temperament, sondern von politischer Vernunft leiten zu lassen. Insofern wird Schulz möglicherweise auch über den Wahltag hinaus eine Rolle in der deutschen Politik spielen. Dann nicht mehr als Spitzenkandidat, sondern als SPD-Chef.