KOMMENTAR

Tiefpunkt

Um das Verhältnis zwischen der Europäischen Zentralbank (EZB) mit Mario Draghi an der Spitze und der deutschen Öffentlichkeit ist es seit Jahren nicht zum Besten bestellt - um es gelinde zu formulieren. Wenn nun aber Bundesfinanzminister Wolfgang...

Tiefpunkt

Um das Verhältnis zwischen der Europäischen Zentralbank (EZB) mit Mario Draghi an der Spitze und der deutschen Öffentlichkeit ist es seit Jahren nicht zum Besten bestellt – um es gelinde zu formulieren. Wenn nun aber Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) der EZB sogar eine große Mitschuld an den Wahlerfolgen der AfD gibt und in der Berliner Politik unverhohlen die Unabhängigkeit der EZB in Zweifel gezogen wird, ist ein neuer Tiefpunkt erreicht. So legitim und notwendig die Debatte über die EZB ist, so sehr muss die Politik aufpassen, nicht zu überziehen – sonst erweist sie am Ende auch Deutschland einen Bärendienst.Keine Frage: Es gibt viel zu kritisieren an der EZB. Wenn die Politik die Notenbank aber zum Sündenbock für alles machen will, ist das nicht nur falsch, sondern auch unlauter. Für das Erstarken der AfD gibt es gravierendere Gründe als den EZB-Kurs – die in Berlin und nicht in Frankfurt zu suchen sind. Auch die Debatte über die Abschaffung des Bargelds, die nicht nur die Euro-kritischen AfD-Populisten ausweiden, muss sich die Politik ankreiden lassen. Sie dringt auf das Aus für den 500-Euro-Schein und auf Bargeldobergrenzen.Zudem ist vieles, was die EZB getan hat und meint, weiter tun zu müssen, ein Resultat des Versagens der Wirtschaftspolitik Da darf sich Berlin nicht ausnehmen: So manchem Koalitionär war es sicher lieb, dass die EZB den Bundestag davor bewahrt hat, über weitere Rettungsmilliarden entscheiden zu müssen. Und auch Berlin hätte mehr beitragen können, dass es der deutschen Wirtschaft – und damit Euroland – heute noch etwas besser geht, als es (noch) der Fall ist: Sich auf früheren Reformen auszuruhen oder diese sogar zurückzudrehen schadet dem Wachstum. In Sachen Reformen versagt nicht nur Frankreich.Wenn nun in Berlin Forderungen nach einer Neubetrachtung des EZB-Mandats laut werden, ist das gefährlich. Zwar haben Draghi & Co. ihr Mandat mindestens unvorstellbar gedehnt – wenn nicht sogar überdehnt. Deutschland stünde aktuell aber ziemlich allein in dem Bestreben, den Einfluss der EZB zu begrenzen. Frankreich und Italien wollen die EZB vielmehr schon lange stärker auf Wachstum und Beschäftigung verpflichten. Der Schuss dürfte also nach hinten losgehen.Mindestens ebenso gefährlich ist es, die – einst von Deutschland zu Recht geforderte – Unabhängigkeit zur Disposition zu stellen. Vielen Politikern agiert die EZB noch zu langsam und zögerlich. Würde sie der totalen politischen Vereinnahmung ausgesetzt, würde das Pendel kaum in die von Berlin gewünschte Richtung ausschlagen. Wichtiger als Debatten über die Unabhängigkeit ist es, dass die EZB aus der Grauzone herauskommt – und dafür braucht es auch entschiedeneres Handeln der Politik.Das alles heißt aber keineswegs, dass die Kritikpunkte am Kurs der Euro-Hüter verfehlt sind – und eine sachliche Debatte nicht berechtigt und nötig ist. Im Gegenteil: Lange Zeit mag es ein Abwägen zwischen dem kurzfristigen Nutzen geldpolitischer Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft und eher langfristigen Risiken gegeben haben. Längst aber scheint der Punkt erreicht, an dem auch kurzfristig die Gefahren dominieren – nicht zuletzt fürs Finanzsystem. Die Geldpolitik ist selbst zum Problem geworden. Umso wichtiger ist, dass sich die Politik endlich ihrer Verantwortung stellt.