DIE BRITISCHE SCHEIDUNG VON DER EUROPÄISCHEN UNION

Tories vor der Zerreißprobe

Brexiteers und konservative Austrittsgegner liefern sich im Unterhaus erbitterte Grabenkämpfe

Tories vor der Zerreißprobe

Die britischen Konservativen stehen vor einer Zerreißprobe. Befürworter eines klaren Schnitts mit der EU werden in der für heute angesetzten Abstimmung über den von Theresa May vorgelegten Austrittsvertrag gegen die Regierung stimmen. Brexit-Gegner wollen sie mit Anträgen zur Geschäftsordnung lähmen. Von Andreas Hippin, LondonDer Streit um die Form, in der sich Großbritannien aus der EU verabschiedet, hat sich für die britischen Konservativen zur Zerreißprobe entwickelt. Wenn am Dienstag über den im Namen von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Austrittsvertrag abgestimmt wird, stehen sich Brexiteers und Europhile unversöhnlich gegenüber. Es gibt aber auf beiden Seiten unterschiedliche Fraktionen. Während sich prominente Köpfe von “Vote Leave” wie Michael Gove und Liam Fox hinter Mays Deal gestellt haben, weil für sie in erster Linie zählt, ihr Projekt noch irgendwie über die Ziellinie zu bringen, leisten ihre einstigen Kampfgenossen Widerstand. Beim parteiinternen Misstrauensvotum stimmten im Dezember 117 Unterhausabgeordnete gegen May. Viele von ihnen werden auch gegen den Austrittsvertrag stimmen – zusammen mit den konservativen Brexit-Gegnern, den nordirischen Unionisten, den schottischen Nationalisten und den Abgeordneten von Labour. Für das weitere Geschehen zählt, wie krass die Abstimmungsniederlage ausfallen wird. Es werden viele Gegenstimmen nötig sein, um May davon abzuhalten, ihren Deal bei nächster Gelegenheit erneut vorzulegen – in der Hoffnung, dass die Zustimmungsbereitschaft der Abgeordneten mit dem Heranrücken des Austrittstermins wächst. Die für den Fall eines No-Deal-Brexits vorhergesagten wirtschaftlichen Nachteile werden schließlich nur die wenigsten verantworten wollen. Managed No DealAber was wären die Alternativen zu einem Exit ohne Übereinkunft mit der EU? Die Befürworter eines klaren Schnitts mit Brüssel wie der ehemalige Außenminister Boris Johnson, der einstige Brexit-Staatssekretär David Davis, das Kabinettsmitglied Andrea Leadsom oder Jacob Rees-Mogg, der Chairman der European Research Group, sprechen mittlerweile immer öfter von einem “Managed No Deal”. Sie wollen die von der EU erwartete Austrittsgebühr von 39 Mrd. Pfund als Druckmittel nutzen, um eine Übergangsphase auszuhandeln, mit der sich die Folgen eines “Hard Brexit” abmildern ließen. Zudem wollen sie zu bestimmten Themengebieten wie dem Luftverkehr Abkommen aushandeln, um größere Verwerfungen zu vermeiden. Je unwahrscheinlicher eine Zustimmung des Parlaments zum sowohl von May als auch von der EU-Kommission favorisierten Austrittsvertrag wird, desto größer dürfte die Verhandlungsbereitschaft Brüssels werden, lautet das Kalkül der Brexiteers. Aber für einen “Managed No Deal” gibt es im Unterhaus keine Mehrheit.Das gilt auch für das Modell “Norwegen plus”. Die für die Wirtschaft am wenigsten schädliche Brexit-Variante wird von den konservativen Hinterbänklern Nick Boles und Oliver Letwin, dem Labour-Politiker Stephen Kinnock und der Arbeits- und Sozialministerin Amber Rudd favorisiert. Großbritannien bliebe Mitglied im gemeinsamen Markt, müsste jedoch nicht weiter der europäischen Landwirtschafts- und Fischereipolitik folgen. Allerdings gibt es ein Fischereiabkommen zwischen dem skandinavischen Land und der EU, das Fischern aus der Staatengemeinschaft den Zugang zu norwegischen Fanggründen zusichert. Im Gegenzug erhebt die EU auf den Großteil der norwegischen Fischereiimporte keine Einfuhrzölle. Das Vereinigte Königreich exportiert den Großteil seiner Fischereierzeugnisse in die EU – an einer vergleichbaren Regelung würde wohl kein Weg vorbeiführen. Aber Details stören nur, wenn das Schicksal der Nation auf dem Spiel steht. Und zuletzt stahl eine andere Gruppe den Norwegenfans die Schau: die Befürworter einer erneuten Volksabstimmung, bei der auch der Verbleib in der EU auf dem Stimmzettel stehen soll. Dafür machen sich europhile Tories wie Anna Soubry und Kenneth Clarke ebenso stark wie die ehemalige Bildungsministerin Justine Greening und Boris Johnsons Bruder Jo. Auch Vince Cable, der Chef der Liberaldemokraten (Lib Dems), der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan (SNP) und Nicola Sturgeon, die Führerin der schottischen Nationalisten, treten dafür ein. Neuwahlen unerwünschtDie Begleitmusik liefern Organisationen wie die unter anderem von George Soros finanzierte “Best for Britain”. Aber auch für ein zweites Referendum zeichnet sich trotz zahlungskräftiger Unterstützer keine Mehrheit ab, denn Labour-Chef Jeremy Corbyn und sein Kampfgenosse John McDonnell setzen stattdessen lieber auf Neuwahlen. Gerade die europafreundlichen Konservativen müssten jedoch um ihr Mandat fürchten, wenn das Unterhaus neu gewählt würde, denn ihre Wahlkreise hatten oft mehrheitlich für den EU-Austritt votiert. Neuwahlen sind deshalb für sie keine Option. Auch die schottischen Nationalisten sind nicht darauf erpicht, denn die Tories brachten ihnen zuletzt Verluste bei. Und allein kommt Labour nicht auf die nötigen Stimmen, um ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu gewinnen.Stattdessen dürften die konservativen Brexit-Gegner versuchen, die Regierung mit Anträgen zur Geschäftsordnung und juristischen Winkelzügen handlungsunfähig zu machen. Dominic Grieve, ehemaliger Generalstaatsanwalt für England und Wales, hatte vergangene Woche bereits dafür gesorgt, dass die Regierung innerhalb von drei Sitzungstagen einen Plan B vorlegen muss, sollte der Deal heute vom Parlament abgelehnt werden. Dass Speaker John Bercow die Abstimmung über seinen Antrag zuließ, sorgte auf den Regierungsbänken für Empörung. Zuvor hatte das Unterhaus einen Zusatz zur Haushaltsgesetzgebung (Finance Bill) beschlossen, der die Handlungsmöglichkeiten der Regierung im Falle eines Hard Brexit erheblich einschränkt. Der “Sunday Times” zufolge wollen die Brexit-Gegner nun die Tagesordnung des Unterhauses unter ihre Kontrolle bringen. Dann könnten sie nach Gusto über Alternativen zu Mays Deal abstimmen lassen und der Regierung so den Takt vorgeben.Demokratietheoretische Probleme stören sie dabei nicht. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis über einen Widerruf des Austrittsgesuchs nach Artikel 50 abgestimmt wird. Der ehemalige Premierminister John Major sprach sich in einem Gastbeitrag für die “Sunday Times” dafür aus: “Mitten im Chaos ist es immer vernünftig, eine Pause einzulegen und nachzudenken.” Je näher der Austrittstermin rückt, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich eine Mehrheit dafür findet.