LEITARTIKEL

Transatlantische Erleichterung

Die Erleichterung über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl ist in Deutschland fast mit Händen zu greifen. Bundeskanzlerin Angela Merkel gehörte jedenfalls zu den ersten Gratulanten des Wahlsiegers Joe Biden und seiner designierten...

Transatlantische Erleichterung

Die Erleichterung über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl ist in Deutschland fast mit Händen zu greifen. Bundeskanzlerin Angela Merkel gehörte jedenfalls zu den ersten Gratulanten des Wahlsiegers Joe Biden und seiner designierten Vizepräsidentin Kamala Harris und ging damit wie so oft in den vergangenen vier Jahren bewusst auf größtmögliche Distanz zum Amtsinhaber Donald Trump. Die Kanzlerin hatte es schließlich auch deshalb besonders eilig mit ihren “herzlichen Glückwünschen” an den President Elect, weil sie den Verschwörungstheorien des Amtsinhabers, der immer noch von Wahlbetrug schwadroniert und keine Anstalten macht, Bidens Erfolg anzuerkennen, Wind aus den Segeln nehmen wollte. Die wenig herzlichen Glückwünsche an Trump vor vier Jahren hatte Merkel übrigens mit dem strengen Hinweis auf gemeinsame Werte als Voraussetzung für gute Zusammenarbeit versehen.Doch nicht nur Merkel ist erleichtert, dass dem Twitter-Kanal von Donald Trump in den Beziehungen zwischen Deutschland und den USA bald nur noch anekdotische Bedeutung zukommen dürfte. In einer Umfrage der ARD gaben in der vergangenen Woche fast neun von zehn Befragten an, mit dem Ergebnis der US-Wahl zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. Eine große Mehrheit der Befragten zeigte sich im Deutschlandtrend außerdem zuversichtlich, dass sich die transatlantischen Beziehungen erholen werden. Das ist dringend notwendig: Im Sommer 2017 gab eine Mehrheit der vom Pew Research Center Befragten in Deutschland an, Russland mehr Vertrauen entgegenzubringen als den USA. Auch die Industrie hofft nach der Wahl auf eine Renaissance der transatlantischen Beziehungen, wie eine Blitzumfrage der AmCham Germany ergeben hat. Fast neun von zehn Mitgliedern der bilateralen Wirtschaftsvereinigung, zu denen auch 21 Dax-Konzerne zählen, rechnen mit einer Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und den USA. Drei Viertel trauen dem nächsten US-Präsidenten einen positiven Einfluss auf die Weltwirtschaft zu.Das weit verbreitete Gefühl der Erleichterung nach Bidens Wahlsieg ist nachvollziehbar. Die Politik der maximalen Erregung, an der Trump nach seiner Wahlniederlage festhält und mit der er die USA offenbar auf eine weitere Belastungsprobe mit offenem Ausgang stellen will, hat in den vergangenen vier Jahren auch die internationale Politik und insbesondere die transatlantischen Partner an den Rand der Erschöpfung und manchmal darüber hinaus geführt. Doch die Zuversicht, dass die irrlichternden Volten des US-Präsidenten gegen westliche Verbündete wie Deutschland genauso zu einem baldigen Ende kommen werden wie die verliebten Fernsehauftritte Trumps im “Bachelor”-Format mit einem Diktator wie Kim Jong-un, reicht nicht aus, um eine Renaissance der transatlantischen Beziehungen einzuläuten.Wichtiger als das Gefühl der Erleichterung ist im Verhältnis von Staaten ein nüchternes Verständnis gemeinsamer Interessen inklusive möglicher Interessenkonflikte. Deutschland tut sich damit schwerer als andere, hat das Land eingedenk seiner Rolle in den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts doch über Jahrzehnte eine Außenpolitik verfolgt, aus der man eigene Interessen am besten gar nicht erst ablesen können sollte. Das transatlantische Bündnis fußt denn auch auf gemeinsamen Werten statt bloß auf gemeinsamen Interessen – und das ist gut so, solange man Interessen und potenzielle Konflikte nicht vergisst oder als Provokationen eines erratischen Präsidenten abtut. Interessen haben eben auch einen Wert.Donald Trump, der Deutschland in einem seiner letzten Wahlkampfauftritte vor wenigen Wochen in einem Atemzug mit China und dem Iran als Widersacher nannte, mag besondere Animositäten gegenüber dem Land seiner Vorfahren hegen und auch ein besonders angespanntes Verhältnis zu Angela Merkel unterhalten. Die Interessenkonflikte zwischen den USA und Deutschland auf Feldern wie der Energiepolitik, dem Handel und der Verteidigung, die in den vergangenen vier Jahren eskaliert sind, reichen aber weiter zurück. Für ein Wiederaufblühen der transatlantischen Beziehungen wird die Wahl von Joe Biden allein deshalb nicht reichen. Das weiß auch Angela Merkel, die im Rahmen ihrer Glückwünsche an den nächsten US-Präsidenten einräumte, dass Deutschland und Europa in der transatlantischen Partnerschaft im 21. Jahrhundert mehr Verantwortung übernehmen müssen. Die Erleichterung in Washington wird sich in Grenzen halten, solange die Europäer nicht den Nachweis dafür erbracht haben. ——Von Stefan ParaviciniNach der US-Wahl ist die Erleichterung in Berlin groß. Die transatlantische Renaissance hängt aber vom Verständnis für gemeinsame Interessen ab.——