LEITARTIKEL

Trauma Finanzkrise

Die Welt wird seit Jahren Zeuge eines gigantischen geldpolitischen Experiments: Die wichtigsten Notenbanken haben nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 ihre Geldpolitik so stark gelockert wie nie zuvor und das für einen so langen Zeitraum wie nie...

Trauma Finanzkrise

Die Welt wird seit Jahren Zeuge eines gigantischen geldpolitischen Experiments: Die wichtigsten Notenbanken haben nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 ihre Geldpolitik so stark gelockert wie nie zuvor und das für einen so langen Zeitraum wie nie zuvor. Klar ist deshalb, dass auch der Ausstieg aus dieser Politik eine Reihe nie dagewesener Herausforderungen birgt. Auch so erklärt sich das Hadern der US-Notenbank, was eine erste Zinserhöhung betrifft, und der teilweise Schlingerkurs der Bank of England in selbiger Frage. Die Notenbanker dürfen den Exit aber auch nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagen – sonst droht schweres Unheil.Natürlich ist auch in den USA und in Großbritannien im Jahr sieben nach der Lehman-Pleite längst nicht alles rosig – und es lassen sich viele Gründe finden für ein Hinauszögern der Zinswende: Allen voran liegt die Inflation weit unterhalb der Zielwerte von 2 %. Verantwortlich dafür ist aber primär der Ölpreisverfall anno 2014; perspektivisch wird die Teuerung anziehen. Wachstumsraten von 2,5 % oder mehr, wie sie dieses Jahr in den USA und Großbritannien realistisch scheinen, passen auf jeden Fall kaum zu Null- oder gar (realen) Minuszinsen. Sicher, die Notenbanker wollen den Aufschwung jetzt auch nicht abwürgen. Aber es geht ja eben nicht darum, den Schalter von “expansiv” auf “restriktiv” umzulegen. Auch mit leicht höheren Leitzinsen wäre die Geldpolitik in den USA und Großbritannien immer noch extrem expansiv. Und womöglich würde vor allem eine Zinsanhebung in den USA in der Tat sogar als Signal des Vertrauens aufgefasst, dass das Land das “Trauma Finanzkrise” hinter sich gelassen hat.Genauso ist es natürlich richtig, dass die aktuellen Turbulenzen in China sowie der erneute Ölpreisrückgang die Entscheidung für den Exit nicht einfacher machen. In Sachen China überwiegt aber derzeit die Hoffnung, dass kein wirtschaftlicher Absturz droht. Was den Ölpreis betrifft, gilt es Acht zu geben, dass die Inflationserwartungen nicht absacken. Es besteht aber kein Grund, gleich wieder Deflationssorgen heraufzubeschwören – die ohnehin oft überzeichnet sind. Bislang jedenfalls sollten beide Entwicklungen die Notenbanker in den USA und Großbritannien nicht davor zurückschrecken lassen, die Zinsen in absehbarer Zeit anzuheben.Das gilt umso mehr, als die Notenbanker sich vor den Risiken eines zu späten Ausstiegs hüten müssen. Je länger sie sich Zeit lassen, desto größer ist der Druck, schneller zu straffen, und desto größer ist die Gefahr von Turbulenzen – das ist das eine Risiko. Die anderen Risiken sind neben der Gefahr für stabile Preise Fehlallokationen in der Wirtschaft, Fehlanreize bei Reformen und Schuldenabbau sowie mögliche Vermögenspreisblasen. Ein großes Problem ist zweifellos, dass der Nutzen einer extrem lockeren Geldpolitik unmittelbar greifbar erscheint, die Kosten aber erst mit der Zeit sichtbar werden. Letztere können aber verheerend sein, wie die Finanzkrise gezeigt hat. Die Notenbanker sollten es also besser wissen.Leider nährt die aktuelle Debatte über Finanzstabilität Zweifel, dass die Notenbanker bereits die richtigen Lehren gezogen haben. Zwar betonen alle, dass Niedrigzinsen den Aufbau finanzieller Ungleichgewichte fördern. Bei ihren Entscheidungen dominieren aber makroökonomische Erwägungen, und die Eindämmung von Finanzrisiken wälzen sie auf die makroprudenzielle Aufsicht ab. Das aber greift zu kurz: Bei Übertreibungen an den Märkten sollte zuvorderst die neue Systemaufsicht agieren. Die Geldpolitik kann sich aber im Notfall nicht ganz heraushalten. Restlos überfordert würde die Makro-Aufsicht mit Sicherheit, wenn eine Notenbank eine Koste-es-was-es-wolle-Politik zur Ankurbelung von Wirtschaft und Inflation betreibt und erwartet, dass die Aufsicht hinter ihr aufräumt. Das muss auch so mancher Notenbanker in der Europäischen Zentralbank (EZB) begreifen.Letztlich wird gegen Zinserhöhungen auch die These der “säkularen Stagnation” ins Feld geführt. Die besagt im Kern, dass die Wirtschaft gefangen sei in einer langen Phase mit kaum oder gar keinem Wachstum, geprägt von tiefen Realzinsen und niedriger Inflation. Tatsächlich steht hinter den aktuell niedrigen Zinsen neben dem geringen Inflationsdruck ein weltweit schwacher Wachstumsausblick. Entscheidend ist es deshalb, das Potenzialwachstum anzukurbeln. Das sollte jedoch nicht durch das Fortschreiben des schuldenfinanzierten Wachstumsmodells mit allfälliger Rückendeckung der Geldpolitik geschehen. Nötig sind Schritte, um die Produktivität zu erhöhen – durch Reformen auf den Arbeits- und Produktmärkten, durch die Förderung von Innovationen. Gefragt ist da die Politik, nicht die Geldpolitik. Die Notenbanken müssen da mehr Druck machen – statt sich fatalistisch mit niedrigen Zinsen als “neuer Normalität” abzufinden.——–Von Mark SchrörsDie Notenbanken in den USA und Großbritannien zögern, die Zinsen zu erhöhen. Der Exit darf aber nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden.——-