Übereinkunft ohne großen Rückhalt
Der Streit um den EU-Austritt hat in Großbritannien an Schärfe gewonnen. Den Befürwortern einer weiteren Volksabstimmung wurde zunächst keinerlei Chance eingeräumt. Inzwischen haben sie reichlich Zuspruch in der Bevölkerung, denn viele halten einen Verbleib in der EU für besser als Theresa Mays Deal.Von Andreas Hippin, LondonDer Streit um den Brexit ist vielschichtiger geworden. Während im Kabinett einige die Seiten wechselten, von denen man es nicht erwartet hätte, fand die Kampagne für eine erneute Volksabstimmung überraschend viel Unterstützung in der Bevölkerung. Auf Seiten der Brexiteers gab es vergleichsweise wenig Bewegung. Neben dem ehemaligen Außenminister Boris Johnson, der schon als Aushängeschild für Vote Leave diente, finden sich dort traditionelle Gegner Brüssels wie Jacob Rees-Mogg, der Vorsitzende der euroskeptischen European Research Group. Ihr gehören bis zu 80 Unterhausabgeordnete der Tories an. Sie könnten die von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Übereinkunft zu Fall bringen. Weitere prominente Verfechter eines klaren Schnitts mit der EU sind Steve Baker, David Davis und Dominic Raab, die allesamt für das Ministerium für den Austritt aus der EU (DExEU) tätig waren. Gove und Fox stützen MayIhnen stehen Mays Unterstützer gegenüber: Schatzkanzler Philip Hammond, Notenbankchef Mark Carney und Carolyn Fairbairn, die Chefin des Unternehmensverbands CBI, der sich einst für die Einführung des Euro stark machte. Ihre Reihen werden durch EU-Gegner wie Umweltminister Michael Gove und den für internationalen Handel zuständigen Staatssekretär Liam Fox verstärkt, die offenbar hoffen, dass man nachkarten kann, wenn der Brexit erst einmal vollzogen ist. Die Uneinigkeit im Lager der EU-Gegner über das weitere Vorgehen hat dazu geführt, dass May im Kabinett mittlerweile eine Mehrheit hinter sich hat. Und so konnte sie ihre Regierung darauf einschwören, den Entwurf der Austrittsvereinbarung abzunicken, der auf dem EU-Sondergipfel am Wochenende abgesegnet werden soll. Kommt es dazu, ist das britische Parlament am Zug. May hatte den Abgeordneten ein “aussagekräftiges Votum” versprochen. Dazu dürfte es wohl in der Woche kommen, die am 10. Dezember beginnt. Die Regierung hat keine Mehrheit, da die nordirische Democratic Unionist Party und zahlreiche parteiinterne Kritiker den Deal ablehnen. Allerdings könnten Labour-Abgeordnete der Einigung doch noch zum Durchbruch verhelfen. Allerdings könnten diverse Änderungsanträge, über die wiederum das Oberhaus befinden müsste, das Verfahren in die Länge ziehen. Kommt es zu keinerlei Komplikationen, könnte die Einigung auf dem letzten EU-Gipfel des Jahres am 13. und 14. Dezember dingfest gemacht werden. Danach würde der Ratifizierungsprozess beginnen. Nach Westminster hätte im März 2019 auch das Europäische Parlament darüber zu befinden, allerdings wird von dieser Seite keinerlei Widerstand erwartet. Großbritannien würde am 29. März aus der EU ausscheiden und die Übergangsphase begänne.Was passiert, wenn das britische Unterhaus die Übereinkunft mit Brüssel niederstimmt, ist bislang jedoch völlig unklar. Die engagierte Proeuropäerin Amber Rudd, die gerade als Arbeits- und Sozialministerin wieder ins Kabinett zurückgekehrt ist und dort die EU-Gegnerin Esther McVey ersetzt, geht davon aus, dass das Parlament einen Brexit ohne Übereinkunft mit Brüssel verhindern wird. May hatte dagegen vor einem chaotischen Herausfallen des Landes aus der Staatengemeinschaft gewarnt. Zu den möglichen Szenarien gehören weitere Verhandlungen mit der EU, ein Wechsel an der Spitze der konservativen Partei, Neuwahlen oder ein zweites Referendum.Für Neuwahlen müsste sich entweder eine Zweidrittelmehrheit des Unterhauses aussprechen, oder die Regierung müsste über ein Misstrauensvotum stürzen. Dazu reicht eine einfache Mehrheit. Sie hätte dann 14 Tage Zeit, um eine Mehrheit für eine Vertrauenserklärung zu finden, durch die das Misstrauensvotum aufgehoben würde. Die Wahrscheinlichkeit beider Varianten ist eher gering. Derzeit finden sich offenbar nicht einmal genug Unterstützer für ein parteiinternes Misstrauensvotum gegen May, obwohl ihre Gegner stets verkündet hatten, sie hätten die dafür erforderlichen 48 Abgeordneten hinter sich. Und die nordirischen Unionisten wollen nicht zu Steigbügelhaltern für Jeremy Corbyn werden. Der Oppositionsführer hatte in der Vergangenheit keinen Hehl aus seiner Sympathie für die IRA gemacht. Allerdings hält die UBS das Risiko, dass es trotzdem zu Neuwahlen kommen könnte, für “nicht unerheblich”.Unterdessen wächst die Unterstützung für eine erneute Volksabstimmung. Anfangs wurde der Kampagne “People’s Vote” keinerlei Chance eingeräumt, inzwischen findet sie erstaunlichen Zuspruch in der Bevölkerung. Dahinter stehen Gruppen wie Open Britain, aber auch die vom US-Finanzinvestor George Soros finanziell unterstützte NGO Best for Britain. Neben Labour-Größen wie Tony Blair und Sadiq Khan finden sich auch Konservative wie die ehemalige Bildungsministerin Justine Greening unter den Fürsprechern eines weiteren Referendums. Sie lehnen Mays Deal ab. Abgeordnete, die sich für ein weiteres Referendum aussprachen, kündigten an, ihn im Parlament niederzustimmen. Die Premierministerin hat also nicht nur die harten Brexiteers gegen sich, sondern auch diejenigen, die hoffen, auf diese Weise einen Verbleib in der EU erreichen zu können. Eine Volksabstimmung ließe sich bis zum Austrittstermin nicht organisieren. Für die Vorbereitungen wäre eine Verlängerung der Frist bis zum Exit nach Artikel 50 des Vertrags von Lissabon nötig.