LEITARTIKEL

Übernehmt Verantwortung!

Die Ereignisse überschlagen sich. Die Corona-Pandemie entwickelt sich zu einem Horrorfilm. Eine bundesweite Zwangsschließung von Sportstätten und vielen Geschäften? Ein totales Verbot von Urlaubsreisen? Ein Notbetrieb des bayerischen Landtags? Jeder...

Übernehmt Verantwortung!

Die Ereignisse überschlagen sich. Die Corona-Pandemie entwickelt sich zu einem Horrorfilm. Eine bundesweite Zwangsschließung von Sportstätten und vielen Geschäften? Ein totales Verbot von Urlaubsreisen? Ein Notbetrieb des bayerischen Landtags? Jeder einzelne Punkt war unvorstellbar. Doch mittlerweile ist dies alles Realität. Und täglich kommen neue Undenkbarkeiten hinzu. Die Welt gerät aus den Fugen.Wie schön wäre es, träte nun der Retter auf den Plan. Die Sehnsucht nach einer Erlösung von allen Sorgen und Nöten treibt die Menschheit seit jeher um. Die Religionen fußen auf diesem Bedürfnis. Einen Deus ex Machina, den die Griechen in der Antike auf ihre Theaterbühnen zauberten, gibt es aber in dieser Corona-Pandemie nicht. Säkularen Gesellschaften ist die Flucht in religiösen Trost sowieso weitgehend verbaut. Das Potenzial, in eine Erlöser-Funktion hineinzuwachsen, haben Medizinforscher. Doch es dürfte noch einige Zeit vergehen, bis sie einen Impfstoff präsentieren können. Die nüchterne Schlussfolgerung ist: Leider ist niemand in Sicht, der die Sache ad hoc richtet.Für Industriegesellschaften ist dies eine neue Erfahrung. Schließlich gehört es zu ihrem Selbstverständnis, dass alles machbar ist. In Unternehmen und Parteizentralen wimmelt es von Managern, die mit diesem Etikett deshalb versehen werden, weil sie Probleme bewältigen und etwas schaffen. Nun herrscht Hilflosigkeit. Das Gefühl von Ausgeliefertsein greift um sich.Der Aktienmarkt symbolisiert diese Reaktion. Sofern vor gut drei Wochen eine Dax-Bewertung von 13 500 Punkten zumindest ansatzweise gerechtfertigt war, so sind die am Montag zwischenzeitlich erreichten 8 256 Punkte eine grob übertriebene Korrektur. Egal wie drastisch und einschneidend die Corona-Katastrophe sein wird, so werden in zwei bis drei Monaten trotzdem die medizinischen Präventionsmaßnahmen in Europa und auch später in Nordamerika Wirkung zeigen. Asien hat es vorgemacht. Unterstützt von einer expansiven Ausgabenpolitik der Staaten gesundet damit die Wirtschaft – bei weitem nicht jedes Unternehmen und nicht jede Branche, aber die Wirtschaft im Schnitt wird vorankommen. Langsam, gewiss. Aber Schritt für Schritt. Gestern wurde an der Börse zeitweise nicht diese Zukunft, sondern die kurzfristig ausgerichtete Angst gehandelt. Angst und Hilflosigkeit können schnell in Anklagen umschlagen. Zudem hat Besserwisserei in Krisenzeiten immer Konjunktur. Dies ist aktuell an Stammtischen und selbst in der gehobenen Publizistik zu beobachten. Dort wird der Politik gerne vorgeworfen, viel zu spät aktiv geworden zu sein. Welch ein Quatsch! Zwar ist auch in dieser Zeitung die Auffassung vertreten worden, die Politik habe in den vergangenen Wochen zu wenig radikal gehandelt. Entscheidend ist jedoch der Zusatz: aus Angst vor übertriebenen Schritten.Wie wären Schulschließungen und das Verrammeln von EU-Grenzen vor 14 Tagen vom Wahlvolk aufgenommen worden? Mit einer Schimpfkanonade. Wahrscheinlich jeder kennt Mitbürger, die vor einer Woche alle Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie für übertrieben hielten. Politiker und Gesundheitsexperten mussten erst Wissen vermitteln. Denn in einer Demokratie à la Westeuropa statt à la Südkorea können auch radikale Einschnitte nur dann helfen, wenn die Menschen an ihren Sinn glauben. Ansonsten schalten sie – teils unbewusst – auf Sabotage um, indem sie weiterhin Feiern besuchen oder Konferenzen abhalten. In Asien mag man Bewegungsprofile von Infizierten per App überwachen. Dies ist bei uns nicht möglich. Zum Glück.Einen Retter gibt es nicht, Schuldzuweisungen greifen zu kurz. Die Konsequenz lautet: Jeder ist auf sich zurückgeworfen. Das hört sich schlimmer an, als es ist. Denn damit können Bürger das tun, was eigentlich den Kern der Demokratie bilden sollte: Mündig sein, freiwillig Verantwortung übernehmen – zuerst für sich, und damit auch für die Gemeinschaft.——Von Michael FlämigDer Glauben an das Machbare durchdringt den Westen. Das Coronavirus zerstört dieses Selbstverständnis. Nun muss jeder Verantwortung tragen. ——