GASTBEITRAG

Unkonventionelle Geldpolitik: Zeit für den Ausstieg

Börsen-Zeitung, 7.6.2017 EZB Präsident Draghi und Vize-Präsident Constâncio führen das Niedrigzinsumfeld ebenso wie die Fed Vorsitzende Yellen auf einen Rückgang des Gleichgewichtszinses zurück. Ursache sei die hohe Ersparnis und nicht die...

Unkonventionelle Geldpolitik: Zeit für den Ausstieg

EZB Präsident Draghi und Vize-Präsident Constâncio führen das Niedrigzinsumfeld ebenso wie die Fed Vorsitzende Yellen auf einen Rückgang des Gleichgewichtszinses zurück. Ursache sei die hohe Ersparnis und nicht die Geldpolitik. Entsprechende Schätzungen sind jedoch äußerst unpräzise. Außerdem legen sie eine Überauslastung der Wirtschaft nahe. Deshalb sprechen sie nicht gegen, sondern für einen Ausstieg aus dem Anleihekaufprogramm der EZB.Die EZB kommt einem Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik näher. Wie und wann dieser Ausstieg umzusetzen ist, dürfte ein wichtiges Thema der morgigen Ratssitzung sein. Nach Einschätzung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist dieser Ausstieg bereits überfällig – wie zuletzt in seiner Konjunkturprognose vom 20. März festgestellt. Während sich die wirtschaftliche Erholung der letzten Jahre weiter fortsetzt, verharrt die EZB geldpolitisch im Krisenmodus. Es herrscht jedoch keine Deflationsgefahr, sondern die Kerninflation ist seit langem positiv. Die Wirtschaftsleistung im Euroraum dürfte 2018 Potenzialniveau erreichen. Angesichts dieser Entwicklung ist die Geldpolitik zu expansiv. Die daraus erwachsenden Risiken für die Finanzstabilität steigen. Insbesondere die zunehmenden Zinsänderungsrisiken im Bankensystem verdeutlichen, wie wichtig es ist, die expansiven Maßnahmen nicht zu spät zurückzufahren.Eine Straffung der äußerst lockeren Geldpolitik ist selbst dann überfällig, wenn man, wie die EZB, von einem deutlichen Rückgang des Gleichgewichtszinses ausgeht. Dieser Gleichgewichtszins definiert jenes Zinsniveau, das weder expansiv noch kontraktiv wirkt. Seine Höhe und sein Abstand zum tatsächlichen Realzins zählen derzeit zu den unter Ökonomen am heftigsten diskutierten offenen Fragen für die Geldpolitik.Fed-Vorsitzende Janet Yellen, EZB-Präsident Mario Draghi und Vizepräsident Constâncio haben wiederholt auf empirische Studien verwiesen, die zeigen sollen, dass die herrschenden Niedrigzinsen auf einen gesunkenen Gleichgewichtszins zurückzuführen sind. Insbesondere die Analysen von John Williams, dem Präsidenten der Federal Reserve Bank of San Francisco, sowie Thomas Laubach und Kathryn Holston von der US-Fed schätzen, dass der reale Gleichgewichtszins in 2010 von um die 2 % auf etwa 0 % gefallen ist. Im Vergleich dazu wäre die aktuelle Geldpolitik nicht so sehr expansiv. Verzerrte SchätzungenHierbei wird jedoch vernachlässigt, dass der mittelfristige Gleichgewichtszins in diesen Studien nur äußerst ungenau geschätzt ist, wie Robert Beyer von der Weltbank und ich in einem aktuellen Arbeitspapier zeigen. Außerdem vernachlässigen Schätzwerte dieses mittelfristigen Gleichgewichtszinses Einflussfaktoren wie etwa Kreditbeschränkungen und zunehmende Regulierung, so dass sie verzerrt sein können. Daher ist es gut möglich, dass sich der “tatsächliche” Gleichgewichtszins in den vergangenen Jahren kaum verändert hat. Ist diesem Fall beruht das Niedrigzinsumfeld hauptsächlich auf der expansiven Geldpolitik. Tatsächlich haben sich Schätzwerte für den langfristigen Gleichgewichtszins nur wenig verändert und sind präziser geschätzt. Zentrale geldpolitische Weichenstellungen sollten deshalb besser nicht mit den unsicheren und potenziell verzerrten mittelfristigen Gleichgewichtszinsen begründet werden. Zumindest sollte die Begründung jedoch die damit konsistente Einschätzung der Wirtschaftsauslastung berücksichtigen.Janet Yellen hat beispielhaft gezeigt, wie man aus einem bestimmten Gleichgewichtszins eine geldpolitische Empfehlung ableiten kann. Dies kommt nicht von ungefähr, denn in den USA wird eine entsprechende Gesetzesvorlage diskutiert. Damit würde die Fed verpflichtet, eine Regel für die Zinspolitik zu formulieren und Abweichungen von der Regel zu erklären und zu begründen. In ihren Reden verwendet Janet Yellen dafür die Taylor-Regel.Diese liefert einen Richtwert für das Zinsniveau abhängig vom Gleichgewichtszins, der Inflationsrate und der Wirtschaftsauslastung. Die Auslastung wird durch den Abstand des Bruttoinlandsprodukts vom Potenzialniveau – der Produktionslücke – gemessen. Sie hängt mit dem Abstand des Realzinses vom geschätzten Gleichgewichtszins zusammen. So rührt der von Yellen, Draghi und Constâncio zitierte Rückgang des geschätzten mittelfristigen Gleichgewichtszinses großteils von einer geringeren Potenzialwachstumsrate her. Die entsprechende mittelfristige Produktionslücke für den Euroraum liegt gut 2 % über den Schätzwerten der EU-Kommission und der OECD, die sich auf das längerfristige Potenzialniveau beziehen.Folgt man nun Yellen, Draghi und Constâncio und verwendet einen Gleichgewichtszins nahe null, so wäre es konsistent, in der Taylor-Regel den entsprechend höheren Schätzwert für die Produktionslücke einzusetzen. In der Summe ergibt sich dann seit 2015 ein positiver und steigender Richtwert für den Leitzins (siehe Grafik). Eine Straffung der Geldpolitik ist somit auch selbst dann überfällig, wenn man von einem sehr niedrigen Gleichgewichtszins ausgeht.Der Euro-Tagesgeldsatz wird maßgeblich durch den EZB-Einlagezins von minus 0,4 % bestimmt. Ferner beeinflussen die umfangreichen EZB-Anleihekäufe die kurz- bis langfristigen Zinsen. So lagen sogar die Zinsen für 10-jährige deutsche Staatsanleihen zeitweise im negativen Bereich. Es wäre daher dringend angebracht, den Ausstieg aus den Anleihekäufen kommunikativ vorzubereiten. Die EZB wird wohl kaum hinter die bereits angekündigte Fortsetzung der Aufkäufe bis Dezember dieses Jahres zurückgehen können. Sie könnte jedoch sehr wohl ankündigen, bei fortgesetzter positiver wirtschaftlicher Entwicklung die Aufkäufe ab Herbst zu reduzieren und in den ersten Monaten 2018 zu beenden. In der Folge könnten die mittel- bis längerfristigen Zinsen tatsächlich wieder Signale für wirtschaftliche Knappheit liefern.—-Volker Wieland, Mitglied des Sachverständigenrates (“Wirtschaftsweiser”) und Geschäftsführer des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS)