GASTBEITRAG

Unsere Volkswirtschaft nach der Coronakrise

Börsen-Zeitung, 28.4.2020 Einer der heutzutage am häufigsten verwendeten Sätze ist, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird, als sie es zuvor war. Gilt dies auch für unsere globale Wirtschaft und in welcher Hinsicht? Viele neue Entwicklungen...

Unsere Volkswirtschaft nach der Coronakrise

Einer der heutzutage am häufigsten verwendeten Sätze ist, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird, als sie es zuvor war. Gilt dies auch für unsere globale Wirtschaft und in welcher Hinsicht? Viele neue Entwicklungen sind noch im Entstehen, aber für Investoren ist es wichtig, sich frühzeitig einen Überblick zu verschaffen. Einige der Veränderungen auf der Angebots- und Nachfrageseite werden langfristiges Wachstum und Wohlstand dämpfen, und es wird eine gewisse Deglobalisierung geben. Moderates Wachstum bedeutet aber auch, dass wir in einem nichtinflationären Umfeld bleiben werden. Die Zinsen werden, wie nach früheren Pandemien, sehr niedrig bleiben. Dies wird einen erneuten starken Aufwärtszyklus der Finanzmärkte bewirken. Nachhaltigkeit ungewissDie Coronakrise dürfte die private Nachfrage in verschiedenen Bereichen verändern. Es ist schwierig, genau zu sagen, wie nachhaltig Verhaltensveränderungen nach der Krise sein werden und ob die Auswirkungen der Pandemie auch in zehn Jahren noch fühlbar sein werden. Aber im Moment scheinen die treibenden Kräfte des Wandels ziemlich stark zu sein. So ist, um einige Beispiele zu nennen, anzunehmen, dass die Digitalisierung unseres Alltags und der Arbeitswelt weiter zunimmt, dass mehr Telearbeit stattfindet, die sich in der Phase des “lockdowns” als gut machbar erwiesen hat, dass mehr online gekauft und gezahlt werden wird und viele Konsumenten lokale Produkte bevorzugen. Anzunehmen ist auch, dass für eine gewisse Zeit weniger Geschäftsreisen und Privatreisen stattfinden und Großveranstaltungen gemieden werden, weil das Sicherheitsbedürfnis hoch ist. Ein größerer Teil der Ausgaben dürfte dagegen auf Gesundheitsleistungen und Hygieneprodukte entfallen. Natürlich kann sich das Verhalten der Konsumenten wieder ändern, wenn zum Beispiel eine sichere Impfung entwickelt wird. Aber die Krise hat doch gesellschaftliche Wahrnehmungen verändert, etwa die Anerkennung von Dienstleistungen und Produkten gestärkt, die für unser Wohlergehen wesentlich sind. Hedonistisches Konsumverhalten könnte zumindest für einige Zeit im Rückgang begriffen sein.Auf der Seite der Unternehmen wird es ebenfalls bedeutende Veränderungen geben. Die Unternehmen werden offener für Fernarbeit und flexible Zeitregelungen sein; nicht zuletzt, weil dadurch der Bedarf an Büroraum verringert wird. Es wird ein Bestreben des Managements sein, die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen zu erhöhen, indem die Abhängigkeit von langen grenzüberschreitenden Lieferketten verringert wird oder höhere Lagerbestände gehalten werden, auch wenn dies einen gewissen Verlust an Effizienz und kurzfristigen Gewinnen bedeutet. Außerdem werden die Unternehmen versuchen, die Bilanzen zu stärken, die durch das Herunterfahren der Wirtschaft und die entsprechenden Verluste massiv belastet wurden. Das wird in vielen Fällen einen Schuldenabbau und eine Wiederaufstockung leerer Kassenbestände implizieren. Die Investitionen werden für einige Zeit geringer sein, und die Bemühungen um Kosteneinsparungen werden gesteigert. Neue FirmenstrukturDie Struktur des Unternehmenssektors wird sich wohl in vielen Ländern verändern. In Bereichen, in denen für einen beträchtlichen Zeitraum von einer geringeren oder deutlich veränderten Nachfrage ausgegangen werden kann (möglicherweise bei Flug- und Schiffsreisen, im Tourismus und bei Großveranstaltungen), wird es Rückgänge und Konsolidierungen geben; in Bereichen, in denen von einer steigenden Nachfrage nach der Corona-Pandemie ausgegangen werden kann (Gesundheitsleistungen, E-Commerce, technologische Ausrüstung und digitale Kommunikationsmittel für Telearbeit, Streaming-Dienste), wird es mehr Investitionen und einen Bedarf an Finanzierung von Wachstum und Innovation geben. Solche Veränderungen nehmen bereits Gestalt an. Die Luftfahrtindustrie beispielsweise, die sich seit einiger Zeit in einem intensiven und zum Teil ruinösen Wettbewerb befindet, hat mit harten Anpassungsmaßnahmen begonnen, wie etwa der Schließung von Billig-Airlines oder Verhandlungen über staatliche Kapitalspritzen. Solche Veränderungen zielen nicht auf vorübergehende Nachfrageschwächen ab, sondern auf einen langfristigen Strukturwandel.Nicht nur im Bereich der Fluggesellschaften, sondern im Grunde genommen in allen Wirtschaftszweigen wird es Unternehmen geben, die nach der Stilllegungsphase Schwierigkeiten haben, sich zu erholen und zu heilen. Selbst überlebensfähige Unternehmen werden mit viel mehr Schulden aus der Krise hervorgehen, und sei es auch nur aufgrund staatlicher Rettungskredite. Und ehemals unprofitable Unternehmen werden noch größeren Herausforderungen gegenüberstehen. Zwar werden Banken und Zentralbanken bei der Kreditvergabe nachsichtig sein, manche Unternehmen werden aber scheitern, deren Erträge (Ebit) schon vor der Coronakrise zu niedrig waren, um die Zinsaufwendungen zu decken. Es wird ein “Überleben des Stärkeren” und eine industrielle Konsolidierung in größerem Maßstab geben. Dort, wo die Wirtschaft expandiert, zum Beispiel bei medizinischen Dienstleistungen oder in der Telekommunikation, werden sich Fusionen und Übernahmen auf Wachstum und Rentabilität konzentrieren, Arbeitsplätze und Löhne werden steigen. Deglobalisierung durch StaatDie Regierungen werden auf die Krise vielerorts mit Schutzmaßnahmen für kritisch eingestufte Sektoren reagieren, um zu hohe Abhängigkeiten von wenigen Zulieferern zu vermeiden. Pharmazeutika, medizinische Ausrüstung und Gesundheitsprodukte, aber auch Bereiche wie digitale Technologien oder Automatisierungstechnologien könnten für Schutzmaßnahmen in Frage kommen. Generell dürften die Übernahmeregeln in vielen Ländern zumindest vorübergehend verschärft werden, um einheimische Produzenten, die durch die Corona-Schließungen geschwächt sind, vor der Übernahme durch ausländische Konkurrenten zu schützen.Diese Politik wird eine protektionistische Wirkung haben, die weiter zur Verlangsamung des Welthandels und der Globalisierung beiträgt. Schutzmaßnahmen können einzelne Volkswirtschaften widerstandsfähiger machen, aber sie werden auch zu Produktivitäts- und Wachstumsverlusten führen. Es bleibt daher abzuwarten, wie lange protektionistische Politikkonzepte tatsächlich überleben werden. Längerfristig wird auf die aus einer internationalen Arbeitsteilung zu erzielenden Gewinne nicht verzichtet werden. Handels- und Technologiefragen einvernehmlich zu regeln, liegt tatsächlich im Eigeninteresse der beteiligten Länder, und es gibt Anreize für politische Entscheidungsträger, die potenziellen Gewinne zu nutzen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Welt in die dunklen Zeiten des Protektionismus zurückfallen wird. Gerade die Pandemie macht deutlich, dass in der heutigen globalisierten Welt Zusammenarbeit und Kooperation wichtiger denn je sind. Klimaschutz unter DruckEine Bremswirkung auf die Globalisierung hatten in den vergangenen Jahren auch die Maßnahmen zum Schutz des Klimas. Durch die akute Bedrohung der Pandemie, die den politischen Entscheidungsträgern neue Prioritäten diktiert hat, ist die Klimadebatte zurzeit in den Hintergrund geraten. Es steht zu befürchten, dass die Corona-Pandemie einige negative Auswirkungen auf die Maßnahmen gegen den Klimawandel haben könnte. Zwar hat die massive Verringerung des Verkehrsaufkommens und der wirtschaftlichen Aktivität während der Lockdown-Phase eine erhebliche Verminderung der Treibhausgasemissionen bewirkt; dies ist aber im Wesentlichen ein vorübergehender Effekt. Längerfristig werden die finanziellen Ressourcen des Staates und des Unternehmenssektors für die Bewältigung dringender Aufgaben stark beansprucht werden: im Unternehmenssektor für die Stärkung der Bilanzen, den Abbau der Verschuldung und die Wiederbesetzung von Stellen nach einer großen Rezession; im Staatssektor für die Ankurbelung der Wirtschaft, die Vermeidung von Pleitewellen und den Schutz von Arbeitnehmern sowie für die Verbesserung des Gesundheitssystems bei gleichzeitiger Begrenzung der staatlichen Schulden. Zwischen diesen Aufgaben und dem Schutz des Klimas werden schwierige Entscheidungen zu treffen sein, und es wird keinen einfachen Ausweg geben. Sicher wird vielfach vorgeschlagen werden, zusätzliche Mittel durch eine Erhöhung der Einkommens- oder der Energiebesteuerung oder durch eine (noch stärkere) Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge herbeizuschaffen, aber dies würde die wirtschaftlichen Probleme verschlimmern, statt sie zu lösen.Der enorme Finanzbedarf der Regierung wird hauptsächlich durch eine höhere Staatsverschuldung gedeckt werden. Die Emission von Anleihen wird sprunghaft zunehmen. Um steigende Zinsen zu vermeiden, werden die Zentralbanken an vorderster Front stehen und große Mengen an Staatsschulden durch ihre Käufe an den Sekundärmärkten absorbieren. Das wird die Liquidität in den Volkswirtschaften weiter erhöhen und zu großen Überschussreserven des Bankensystems führen.Kommt es damit zu einer Erhöhung der Verbraucherpreisinflation, die – zum Missfallen der Zentralbanken – seit so langer Zeit so niedrig ist? Kurzfristig gibt es in verschiedenen Bereichen Gründe für etwas höhere Inflation; bei medizinischen Gütern und Arzneimitteln aufgrund des aktuell sehr hohen Bedarfs, in der Landwirtschaft, aber auch im Pflegedienst durch die Knappheit an Personal, in Produktionsbereichen, wo Zulieferungen im Rahmen globaler Wertschöpfungsketten nicht rasch verfügbar sind. Wenn diese Engpässe überwunden sind, wird auch der Inflationsauftrieb wieder geringer werden. Dämpfer für InflationDie Nachwehen der Krise werden eher disinflationär wirken. So werden Staat und Unternehmen mit hohen Schulden zu kämpfen haben und in irgendeiner Form sparen müssen; beim Staat wird es wohl auch Steuererhöhungen geben. Auch die privaten Ersparnisse der Haushalte werden, wie häufig nach großen Krisen, eher hoch sein und die Nachfrage dämpfen. Hinzu kommt, dass der Preisdruck durch eine weitere Digitalisierung in Handel und Produktion noch steigen dürfte. Das Ergebnis der hohen Geldschöpfung dürfte also eher den Zeiten vor der Coronakrise ähneln, das heißt, zur Inflation von Vermögenswerten, aber nicht der Verbraucherpreise führen.Nach wie vor wird auf die Fähigkeit der Zentralbanken vertraut, die interne und externe Stabilität einer Währung zu bewahren. Ein Wegbrechen dieses Vertrauens ist nicht in Sicht. Die Inflationserwartungen bleiben trotz der großen Bilanzausweitung der Zentralbanken niedrig. Auch das Beispiel der japanischen Zentralbank zeigt, dass viele Jahre einer Politik mit großdimensionierten Anleihekäufen nicht notwendigerweise Inflationserwartungen entstehen lassen müssen. Solidarität in der EUEs wird viel darüber spekuliert, ob die Krise den Euroraum und eine Reihe seiner Mitgliedsländer aus den Angeln heben könnte. Schwache Volkswirtschaften wie Italien oder Griechenland seien von der Coronakrise besonders betroffen und hätten nicht den fiskalischen Spielraum, um ihre Volkswirtschaften zu stabilisieren. Sie seien von der Solidarität der Gemeinschaft abhängig. Wie die jüngsten Beschlüsse der EU-Staats- und Regierungschefs gezeigt haben, gibt es jedoch tatsächlich viel Solidarität in Bezug auf die verfügbaren Finanzhilfen: Mittel des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) von insgesamt über 400 Mrd. Euro, der EU (100 Mrd. für den Beschäftigungsschutz) und der Europäischen Investitionsbank (25 Mrd. für ca. 200 Mrd. Kreditgarantien) stehen zur Verfügung, zudem ist ein großer “Wiederaufbaufonds” geplant. Ergänzt wird dies durch ein Pandemie-Notkaufprogramm (PEPP) der Europäischen Zentralbank in Höhe von 750 Mrd. Euro, das zur Stabilisierung schwächerer Länder eingesetzt werden kann. Sollten Spekulationen über den Zusammenhalt der Währungsgemeinschaft wieder aufflammen, sind weitere Gegenmaßnahmen zu erwarten. Die politischen Entscheidungsträger werden alles tun, damit die Eurozone nicht durch den Virus aus den Angeln gehoben wird. Langfristiges Wachstum sinktWas sind die langfristigen Auswirkungen dieser Veränderungen? Werden die Volkswirtschaften der Welt nach der zu erwartenden kräftigen Konjunkturerholung in den kommenden Monaten dann zum Trendwachstum vor der Krise zurückkehren oder wird es niedriger ausfallen? Verschiebungen auf der Nachfrage- und Angebotsseite der Volkswirtschaften müssen das Gesamtwachstum nicht dämpfen, wenn die Politik den Strukturwandel akzeptiert und erleichtert. In einer flexiblen Marktwirtschaft sollte es ein Gleichgewicht von Gewinnern und Verlierern des Strukturwandels geben, expandierende Sektoren mit Arbeitsplätzen und Einkommenswachstum neben schrumpfenden Sektoren mit Überkapazitäten und Umstrukturierung.Schaden kann jedoch angerichtet werden, wenn die politischen Entscheidungsträger versuchen, den Strukturwandel zu umgehen und unrentable Unternehmen am Leben zu erhalten, die Wachstum und Innovation in der Wirtschaft nicht fördern. Dieses Risiko ist nicht kleinzuschreiben. Da die Regierungen viel in die Rettung von Unternehmen investieren werden, könnten sie dazu neigen, ihren Einfluss auf die Privatwirtschaft noch einige Zeit lang geltend zu machen. Verstärktes SparenDer Hauptgrund für die Erwartung eines zumindest für einige Jahre schwächeren globalen Wachstums ist jedoch nicht der strukturelle Wandel, sondern die Überlegung, dass sowohl starke als auch weniger lebensfähige Unternehmen gezwungen sein werden, ihre Bilanzen zu stärken und ihre Kassenbestände aufzufüllen. Das dürfte eine schwache Investitionsnachfrage und eine hohe Ersparnis der Unternehmen nach sich ziehen. Da auch die privaten Haushalte in der Zeit nach der Krise verhältnismäßig viel sparen werden, wird den hohen öffentlichen Defiziten ein erhebliches Kapitalangebot gegenüberstehen. In diesem Umfeld werden auch die Kapitalmarktrenditen niedrig bleiben.Dazu werden auch die Zentralbanken beitragen, die in hohem Maße staatliche Anleihen aufkaufen und damit die Wirkungen einer expansiven Fiskalpolitik unterstützen werden. Die Verschuldungswelle der Nationalstaaten wird dennoch nicht unbegrenzt weitergehen können. Längerfristig werden die Regierungen Ausgaben senken oder die Einnahmen erhöhen müssen, um zu einer nachhaltigen Politik zurückzukehren.Auch in Deutschland werden ja bereits Steuererhöhungen von einzelnen Interessengruppen und von Teilen des politischen Spektrums vorgeschlagen. Mitten in der Coronarezession wären Steuererhöhungen höchst gefährlich und werden wahrscheinlich vermieden werden, aber langfristig werden sie sicherlich Teil des Konsolidierungsprogramms für die öffentlichen Haushalte werden. Auch das wird das Wachstum mittelfristig dämpfen.Die gute Nachricht ist, dass all dies wahrscheinlich ein längerfristiges Wiederaufleben der Inflation verhindern wird. Überschüssige Liquidität und sehr niedrige Realzinsen werden Nachfrage nach allen Arten von Risikoanlagen erzeugen und den Aufwärtszyklus an den Finanzmärkten reaktivieren. Langfristig orientierte Anleger können trotz der Aussicht auf ein nur moderates mittelfristiges Wachstum bedeutende Chancen nutzen. In diesem Sinne wird sich die Welt nach Corona keinesfalls geändert haben.Michael Heise, Chefökonom HQ Trust