„Update des deutschen Wirtschaftswunders nötig“
Wie lautet Ihr Urteil über die Wirtschaftspolitik der großen Koalition in den vergangenen vier Jahren? Was ist gut gelaufen, was nicht?
Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK): Die Regierung hat schnell und angemessen auf die Corona-Pandemie reagiert, sowohl mit Hilfsprogrammen im Inland als auch auf europäischer Ebene. Die Maßnahmen haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Wirtschaft schnell stabilisieren konnte. Weniger befriedigend waren die Fortschritte bei den öffentlichen Investitionen und der Klimawende. Hier waren die Schritte klar zu zaghaft und die nächste Regierung wird nachlegen müssen.
Klaus Günter Deutsch, Chefvolkswirt des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI): Die große Koalition hat die Investitionen erhöht und in der Pandemie Unternehmen und Beschäftigte geschützt. Zudem wurden wichtige Industrieprojekte gefördert: Mikroelektronik, Batterien, Wasserstoff und mehr. Deutschland hat mit Frankreich die Weichen für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft gestellt. In der Klimapolitik und in der Altersversorgung blieb die Regierung jedoch weit hinter den Reformnotwendigkeiten zurück.
Monika Schnitzer, Mitglied des Sachverständigenrates und Professorin an der Universität München: Es wurde gesetzgeberisch einiges auf den Weg gebracht, aber die Umsetzung ist zu schwerfällig. Im Klimaschutz und bei der Digitalisierung sind noch keine spürbaren Fortschritte erkennbar. Versäumt wurde eine nachhaltige Rentenreform, während die eingeführte Grundrente nur wenigen hilft, aber enorme Bürokratiekosten verursacht. Die Pandemiehilfen kamen schnell und waren hilfreich, aber man hat zu wenig für die längere Frist geplant (Schulen, Impfkampagne).
Ludovic Subran, Chefvolkswirt der Allianz: In den vergangenen 18 Monaten hat sich die Wirtschaftspolitik vor allem auf die Bewältigung der Coronakrise fokussiert. Die schnell beschlossenen, umfangreichen Stützungsmaßnahmen – von Bazooka bis Wumms – haben den Konjunkturschock klar abgefedert, auch wenn einige Hilfen zu kompliziert waren und das Konjunkturpaket mehr auf die Angebotsseite hätte abzielen können. Strukturelle Reformen sind in den vergangenen vier Jahren aber viel zu kurz gekommen.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW): Konsistente Wirtschaftspolitik hat es nicht gegeben. Steuerpolitisch und sozialpolitisch gab es keinen Fortschritt. Das Klimapaket 2019 war systematisch ein Lichtblick, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz 2020 ebenso. Angemessen war die fiskalpolitische Kompensation der Pandemie im Jahr 2020, allerdings haperte es bei der Umsetzung. Keine Antwort hat die Regierung auf die infrastrukturellen Notwendigkeiten gefunden.
Was sollten die drei wirtschaftspolitischen Top-Prioritäten der nächsten Bundesregierung sein?
Dullien: Zunächst sollte die Regierung ein umfangreiches Investitionsprogramm für die nächsten Jahre auflegen, das zum einen die Mängel an der bestehenden Infrastruktur behebt, zum anderen jene Investitionen etwa in Energienetze anschiebt, die wir für die Klimawende brauchen. In den Verwaltungen sollten das Planungspersonal aufgestockt und Planungsprozesse verschlankt werden. Am Arbeitsmarkt sollte die Tarifbindung gefördert und der Mindestlohn erhöht werden.
Deutsch: Die nächste Regierung sollte sich noch stärker der technologischen Wettbewerbsfähigkeit und der strategischen Souveränität in der EU widmen, die Klimaziele mit angemessenen Instrumenten unterlegen und die steuerliche Belastung der Unternehmen auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau senken. Technologische Innovationen werden dort öffentlich flankiert werden müssen, wo der Wettbewerb verzerrt ist oder Externalitäten vorliegen.
Schnitzer: 1) Eine Rentenreform! Wenn Beitragssätze, Eintrittsalter, Rentenniveau bleiben wie bisher, müssen wir 2045 knapp 55 % des Bundeshaushalts für Rentenzuschüsse ausgeben. 2) Digitalisierung: Versäumtes nachholen (Infrastruktur, digitale Verwaltung), Rahmenbedingungen für digitale Technologien verbessern (Cybersecurity, KI, Quantentechnologie). 3) Klimaschutz: nicht nur Ziele nennen, sondern Umsetzungspläne entwickeln (CO 2 -Preise, Windenergie, Stromtrassen, Wasserstoff).
Subran: Wir brauchen dringend ein Update des deutschen Wirtschaftswunders, um die großen Herausforderungen wie Digitalisierung und Klimawandel zu meistern. Dafür gilt es, die dicken Reformbretter zu bohren: 1) Update des institutionellen Rückgrats (Modernisierung von Föderalismus und Verwaltung); 2) Bereitstellung von wettbewerbsfähiger Hard- und Software (Ausbau der digitalen Infrastruktur und Reform des Bildungssystems); und 3) Förderung von Unternehmertum.
Hüther: Demografische Alterung und Klimaneutralität verlangen konsequente und stimmige Entscheidungen; jedes Zögern kostet enorm viel, weil Anpassungs- und Innovationszeit fehlt. Jeweils sind robuste Bedingungen für die Erwartungsbildung zentral. Dazu kommen untrennbar Europa und globale Kooperation. Nur ein ökonomisch starkes und sicherheitspolitisch souveränes Europa kann die notwendige globale Kooperation erreichen (z. B. Klimaclub).
Sind Wirtschaftswachstum und Klimaschutz letztlich doch sich widersprechende Ziele oder wie lassen sich – konkret – Ökonomie und Ökologie miteinander in Einklang bringen?
Dullien: Klimaschutz und Wirtschaftswachstum sind kein Gegensatz, erst recht nicht für die deutsche Wirtschaft. Wenn Deutschland zum Vorreiter bei CO 2 -neutralen Technologien wird, dürfte das der deutschen Industrie über Jahre volle Auftragsbücher – und damit Wachstum – bescheren. Global ist es allerdings für die Vereinbarkeit von Wachstum und Klimaschutz notwendig, von klimaschädlichen zu klimaneutralen Aktivitäten umzusteuern.
Deutsch: Nachhaltiges Wachstum gelingt mit gutem Marktdesign, etwa der Bepreisung von CO2-Emissionen, und Anreizen für neue Technologien. Deutlich höhere öffentliche und private Investitionen werden nur dann realistisch, wenn Geschäftsmodelle, Regulierung und Förderung zusammenpassen. Gesamtwirtschaftliche Risiken dieser Umstellung müssen adressiert werden – Stichworte: Arbeitsplätze in der Transformation, Verfügbarkeit und Kosten von Strom.
Schnitzer: Investitionen in den Klimaschutz erhöhen das Wachstum, das widerspricht sich nicht. Entscheidend ist, auf qualitatives Wachstum zu setzen, d. h. nicht mehr Ressourcen zu verbrauchen, sondern Ressourcen effizienter einzusetzen, nicht mehr Produkte zu produzieren, sondern bessere Produkte und Dienstleistungen. Gerade die digitale Ökonomie bietet enorme Wachstumspotenziale, ohne dass dies zu Lasten der Umwelt gehen muss.
Subran: Langfristig ist Klimaschutz der beste Garant für eine stabile Wirtschaft. Zwar sind Klimaschutzmaßnahmen kostspielig, doch dem gegenüber muss man den durch den Klimawandel verursachten wirtschaftlichen Schaden stellen. Der Staat sollte mit Förderprogrammen und Anreizen den Wandel unterstützen und gleichzeitig den privaten Sektor mit einer klaren Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und sozial fairem Lastenausgleich entlasten.
Hüther: Klimaschutz hängt wesentlich von der Innovationsleistung der Unternehmen ab. Die setzt wirtschaftliche Dynamik im Wettbewerbsprozess und Kapitalkraft voraus. Das Ende des fossilen Zeitalters bedeutet nicht das Ende der Marktwirtschaft, sondern lebt von deren Erneuerungsfähigkeit unter gänzlich anderen Bedingungen. Der CO 2 -Preis ist das marktliche Steuerungsinstrument dabei, das auf die dezentrale Anpassung und Erfindung setzt.
Im Zuge der Coronakrise ist die Staatsverschuldung erheblich angestiegen. Braucht es jetzt schnellstmöglich wieder Konsolidierung und dafür womöglich Steuererhöhungen – oder ist die hohe Verschuldung gar nicht so problematisch?
Dullien: Die Schuldenquote von derzeit etwas mehr als 70 % ist kein Problem. Die meisten Industrieländer haben deutlich höhere Schuldenquoten; auch lag die Quote vor zehn Jahren noch merklich höher. Die Zinsbelastung der öffentlichen Hand ist dank sehr niedriger Zinsen so gering wie seit Jahrzehnten nicht. Ohne Sparprogramme wird absehbar die Schuldenquote allein durch das Wirtschaftswachstum wieder fallen. Es besteht hier also kein Handlungsdruck.
Deutsch: Die Nettokreditaufnahme für die Pandemiebekämpfung war notwendig und ist verkraftbar. Die Rückzahlung sollte jedoch von 20 auf 40 Jahre gestreckt werden. Die nächste Koalition wird sich auf eine wachstumsorientierte Finanzpolitik verständigen müssen: Vorrang für Investitionen, Klimaschutz, steuerliche Entlastung der Unternehmen und digitale Leistungskraft von Staat, Unternehmen und Bevölkerung.
Schnitzer: Wir müssen konsolidieren, aber werden eine Übergangsphase brauchen, bis wir die Schuldenbremse wieder einhalten können. Steuererhöhungen wären jetzt nicht zielführend, wenn wir die Konjunktur nicht abwürgen wollen. Für Steuersenkungen sehe ich aber auch keinen Spielraum. Entscheidend ist, dass jetzt jeder Euro, der ausgegeben wird, mit Blick auf die Zukunft ausgegeben wird. Langfristig die höchsten Renditen werfen Investitionen in Forschung und Entwicklung – FuE – ab.
Subran: Die Schuldenbremse gibt klar vor, wann und in welchem Umfang der Corona- Überhang bei den Staatsschulden wieder zurückgezahlt werden muss. Die verbleibenden fiskalpolitischen Spielräume müssen intelligenter genutzt werden mit einem Fokus auf Zukunftsausgaben, während zusätzlicher Ausgabenspielraum durch den Abbau von braunen Subventionen und unnötigen Steuererleichterungen und -ausgaben geschaffen werden sollte.
Hüther: Die Coronaschulden sind, wie es NRW mit 50 Jahren plant, langfristig zu tilgen, um Konsolidierungsschäden durch Steuererhöhungen zu vermeiden. Eine investitionsorientierte Verschuldung für die Infrastruktur zur Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografische Alterung (in einem „Deutschlandfonds“) macht ökonomisch Sinn, zumal die Zinsen auf Staatsanleihen absehbar niedriger sein werden als die gesamtwirtschaftliche Dynamik.
Wie beurteilen Sie die Lage und die Aussichten für die deutsche Wirtschaft – konjunkturell, aber auch strukturell?
Dullien: Konjunkturell dürfte der deutschen Wirtschaft eine kräftige Erholung bevorstehen, sobald die Coronabeschränkungen endgültig aufgehoben sind und sich die Lieferprobleme bei den Vorprodukten und insbesondere Halbleitern lösen. Die mittel- und längerfristigen Aussichten hängen stark davon, inwieweit es der Industrie – hoffentlich unterstützt von der nächsten Regierung – gelingt, auf klimaneutrale Produktion und Technologien umzustellen.
Deutsch: Die wirtschaftliche Erholung kommt langsamer voran als erwartet. Angebots- und Lieferengpässe in der Industrie bremsen die kräftige Nachfrage aus. Auch sind noch nicht alle Dienstleistungen wieder voll zurück. Investitionen und Außenhandel laufen gut, aber die Konsumenten bleiben auf ihren Zusatzersparnissen aus dem Lockdown hocken. Das war zu erwarten, hilft aber nicht. Hoffentlich schaffen wir 3 % reales Wachstum dieses Jahr.
Schnitzer: Konjunkturell sind wir auf einem guten Weg, strukturell gibt es Grund zur Sorge. Unsere Wirtschaft ist zu einseitig auf alte Technologien ausgerichtet, ein deutlich zu kleiner Teil der Wertschöpfung wird mit Produkten, Technologien und Geschäftsmodellen der digitalen und der nachhaltigen Ökonomie generiert. Ein Lichtblick ist der Erfolg in der Impfstoffentwicklung; er zeigt, dass es uns jedenfalls nicht an Talenten fehlt, um vorne mitzuspielen.
Subran: Deutschland ist relativ gut durch die Coronakrise gekommen. Der Zenit des Aufschwungs liegt wohl hinter uns, doch trotz nachlassender Aufholeffekte und anhaltender Lieferkettenengpässe dürfte die deutsche Wirtschaft bereits vor Jahresende ihr Vorkrisenniveau wieder erreicht haben. Größere Sorgen bereiten mir angesichts der verschlafenen digitalen und grünen Möglichkeiten eher die langfristigen Aussichten für Wachstum und Wohlstand.
Hüther: Konjunkturell klemmt durch Engpässe bei Vorleistungen die Angebotsseite. Die Nachfrage brummt ausweislich der Auftragsbestände und der Dynamik des Welthandels. Insoweit sich die Beschaffungsprobleme im weiteren Verlauf auflösen, birgt das kommende Jahr eine positive Überraschung. Strukturell sehen wir eine doppelte Investitionslücke: bei den privaten wie bei den öffentlichen Investitionen. So wird der Wandel zur Klimaneutralität nicht gelingen.
Die Fragen stellte Mark Schrörs.