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US-Gericht beflügelt Obama auf Weg zur zweiten Amtszeit

Von Peter De Thier, Washington Börsen-Zeitung, 29.6.2012 Selten hat eine wirtschafts- und sozialpolitische Debatte dermaßen die Gemüter erregt. Amerikas Oberster Gerichtshof hat die historische US-Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama für...

US-Gericht beflügelt Obama auf Weg zur zweiten Amtszeit

Von Peter De Thier, WashingtonSelten hat eine wirtschafts- und sozialpolitische Debatte dermaßen die Gemüter erregt. Amerikas Oberster Gerichtshof hat die historische US-Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama für verfassungskonform erklärt und damit einen bahnbrechenden Kurswechsel in der amerikanischen Sozial- und Gesundheitspolitik bestätigt. Damit könnten die hohen Richter auch bereits eine Vorentscheidung im Rennen um den Chefsessel an der 1600 Pennsylvania Avenue herbeigeführt haben. Nach Ansicht von Experten wird das Urteil Obama kräftig beflügeln und seinem Gegner Mitt Romney den Weg ins Weiße Haus deutlich erschweren.Nach jahrzehntelangem Tauziehen, das in die Anfangsphase der Ära Bill Clinton zurückreicht, war dem politischen Himmelsstürmer Obama im März 2010 ein politisches Meisterstück gelungen, an dem sich sowohl demokratische als auch republikanische Präsidenten die Zähne ausgebissen hatten: Er erreichte in beiden Kongresskammern die notwendigen Mehrheiten für den Affordable Care Act (ACA) oder kurz: Obamacare.Doch kaum war die Tinte, mit der Obama das historische Regelwerk unterschrieben hatte, getrocknet, gelobten die Republikaner, das 2 700 Seiten umfassende Maßnahmenbündel um jeden Preis zu Fall zu bringen. Gut zwei Jahre danach zog der Supreme Court nun einen definitiven Schlussstrich unter das Gerangel und bescherte zugleich dem Präsidenten einen politischen Sieg, dessen Tragweite gut vier Monate vor den US-Wahlen nicht unterschätzt werden sollte.Die Opposition, insbesondere der rechtsgerichtete Flügel der Tea Party, verkaufte das Tauziehen um Obamacare als ideologischen Richtungsstreit. Die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht stelle in einer freien Marktwirtschaft einen unzulässigen staatlichen Eingriff dar und mute regelrecht “sozialistisch” an, monierten die Republikaner. Obama hingegen führte verteilungspolitische Argumente ins Feld. Dass 47 Millionen Amerikaner unversichert seien und viele sich im Falle einer Erkrankung den Arztbesuch nicht leisten könnten, sei sozial unerträglich.Der Präsident führte ein weiteres, durchaus plausibles ökonomisches Argument an: Krankenversicherung sei kein gewöhnliches Wirtschaftsgut, das den Gesetzen des freien Marktes unterliege. Da jeder Mensch früher oder später ärztliche und medizinische Betreuung benötige, sei es wirtschaftlich sinnvoller und gerechter, durch die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht die Kosten gleichmäßiger zu verteilen und einen Trittbrettfahrereffekt zu vermeiden.Obwohl die ideologischen Differenzen gerade in einem Wahljahr ins Gewicht fallen, wurde der bitter ausgefochtene Kampf um Obamacare vorwiegend von ökonomischen Überlegungen getrieben. Finanziert werden soll die Jahrhundertreform nämlich vorwiegend durch höhere Steuern für wohlhabendere Versicherungsnehmer sowie durch Gebührenerhöhungen für Krankenversicherer und die Pharmaindustrie. Allein die höheren Pflichtprämien, die Besserverdienende für die gesetzliche Krankenvorsorge Medicare abführen müssen, sollen 210 Mrd. Dollar in die Staatskasse spülen.Auch sollten sogenannte “Cadillac Policen”, die allerbeste Versorgung garantieren und nur von den Reichsten gekauft werden, deutlich höheren Steuern unterliegen. Dazu gesellen sich Gebühren in dreistelliger Milliardenhöhe, die sowohl Versicherungsunternehmen als auch Pharmakonzerne und Importeure verbilligter ausländische Medikamente zahlen werden müssen.Dass ihnen ein sozialliberaler Präsident enorme Kosten aufbürden wollte, war für die wichtigsten Akteure in der Branche Grund genug, um ihre Lobbyisten zu mobilisieren und nicht nur den Druck auf den Kongress zu verstärken, sondern auch kostspielige Klagen anzustrengen. Eine solche Klage, der sich 27 US-Staaten anschlossen, landete schließlich beim Obersten Gerichtshof, dessen knappe republikanische Mehrheit aber nicht wie in der Vergangenheit ein weiteres Mal den erwarteten Schulterschluss mit den Konservativen übte.Vielmehr gab ausgerechnet der von Ex-Präsident George W. Bush ernannte Oberste Richter John Roberts die entscheidende Stimme ab. Seiner Ansicht nach erhebt der Staat eine Steuer, wenn er jenen, die sich nicht versichern wollen, eine Geldstrafe auferlegt, und Steuern zu erheben stehe dem Fiskus rechtlich zu.So oder so stellt sich nun die Frage, welche Folgen für das angeschlagene Gesundheitssystem in den USA zu erwarten sind und wie das Urteil sowohl auf die Wirtschaft als auch die Wahlen durchschlagen wird. Indem er faktisch den Status quo festschrieb, hat der Oberste Gerichtshof jedenfalls sichergestellt, dass trotz der hohen Arbeitslosigkeit und schwächelnden Konjunktur die Zahl von 47 Millionen Unversicherten deutlich zurückgehen wird. Teuer, aber nicht besserAuch dürfte sich ein anderer Trend umkehren. Wie aus einer Studie des Commonwealth Fund sowie der jüngsten Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht, geben die Amerikaner für Krankenversorgung deutlich mehr aus als jede andere Industrienation. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt bei über 17 %.Trotzdem machen in keinem anderen Land die Unversicherten einen so großen Teil der Gesamtbevölkerung aus. Auch ist laut Commonwealth Fund die an verschiedenen Indikatoren gemessene Gesundheitsvorsorge keineswegs besser als in anderen Staaten, im Gegenteil. Aufgrund der anvisierten Sparmaßnahmen, die über niedrigere Prämien, erschwinglichere Medikamente und effizientere Technologie erzielt werden sollen, hoffen Anhänger des Gesetzes, dass bei sinkenden Kosten die Qualität der Gesundheitsvorsorge langfristig deutlich steigt.