Schwellenländer

Vereinzelter Stress statt Flächenbrand

Währungsturbulenzen in der Türkei und die Aussicht auf ein Zurückfahren der lockeren Geldpolitik in den USA wecken bei Anlegern und Analysten schlechte Erinnerungen an frühere Krisen. Das Gros der Schwellenländer ist diesmal in einer besseren Ausgangslage. Doch es gibt Ausnahmen.

Vereinzelter Stress statt Flächenbrand

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Für den neuen Chef Sahap Kavcioglu war der erste Zinsentscheid der türkischen Notenbank unter seiner Führung ein Drahtseilakt: Hier Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der seinen loyalen Gefolgsmann vor wenigen Wochen mit der klaren Botschaft an die Spitze der Zentralbank gehievt hatte, dass es nun aber gut sein möge mit den Zinserhöhungen. Dort die in gespannter Nervosität harrenden Devisenhändler, die angesichts weiter steigender Inflationsraten im zweistelligen Bereich das Gegenteil für angebracht halten und die Lira bei einer Zinssenkung umgehend auf Talfahrt geschickt hätten. Allen konnte Kavcioglu es schlechterdings nicht recht machen, daher tat der frühere Professor für Bankwirtschaftslehre erst mal: gar nichts. Die Währungshüter tasteten den Leitzins gestern bei 19% nicht an.

Schwellenländerexperten schauen derzeit noch genauer auf die Entwicklungen in der Türkei als sonst. Sie fürchten ein Muster früherer Krisen: Wiederholt waren es anfangs lokal begrenzte Verwerfungen, die sich zu einem Flächenbrand in der zweiten Reihe der Weltwirtschaft auswuchsen. So lief es etwa mit der Lira-Krise 2018. Verstärkt wird das flaue Gefühl in Bezug auf die Resistenz der Schwellenländer durch eine parallele Entwicklung, die ebenfalls schlechte Erinnerungen weckt: 2013 löste die missglückte Kommunikation der US-Notenbank eine Schwellenländerkrise aus. Indem Fed-Chef Ben Bernanke zum damaligen Zeitpunkt unerwartet ein Zurückfahren der Anleihekäufe andeutete, löste er eine Kapitalflucht in US-Papiere aus. Angesichts zuletzt gestiegener Zinsen in den USA und des dort angelaufenen starken Aufschwungs rückt der Moment der Wahrheit wieder näher – und Marktteilnehmer fragen sich, ob sich das gefürchtete „Taper Tantrum“ von 2013 wiederholt.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lautet die Antwort von Fachleuten überwiegend: eher nicht – zumindest nicht in jenem extremen Ausmaß wie 2013 oder auch zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020, als Anleger in kürzester Zeit so viel Kapital abzogen wie nie. In der Zwischenzeit sind sie nach und nach zurückgekehrt, wie Analysen zu globalen Kapitalströmen zeigen. So ist Daten der Bankenlobby International Institute of Finance (IIF) zu entnehmen, dass im letzten Quartal 2020 Rekordzuflüsse in Schwellenländer von monatlich zig Mrd. Dollar zu beobachten waren. Die sind seitdem zwar abgeebbt und fielen im März in den einstelligen Milliarden-Dollar-Bereich. Insgesamt haben sich die Kapitalströme aber stabilisiert. Die IIF-Ökonomen erwarten „weiterhin episodische Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern wie in den letzten Monaten, aber die Ausgangsbedingungen sind besser als im Vorfeld des Taper Tantrum 2013“.

Dieser Auffassung schließen sich andere mehrheitlich an. Tatiana Lysenko, leitende Schwellenländerexpertin bei der Ratingagentur S&P Global, sagte der Börsen-Zeitung: „Wir erwarten keine breit angelegte Krise, da viele Schwellenländer im Vergleich zu früheren Stressphasen stärkere Fundamentaldaten haben, die ihnen helfen, externen Schocks zu widerstehen.“ Denise Simon, Co-Chefin für Schwellenländeranleihen bei Lazard Asset Management, hält die Schwellenländer für „wesentlich stabiler aufgestellt als 2013“. Auch Fachleute der Allianz halten die Ausgangsbedingungen für „vorteilhafter als 2013“. Ausgewählte Länder sind laut einer Studie von Allianz-Volkswirten um Manfred Stamer allerdings für Turbulenzen wie 2013 anfällig. Zu diesem Zweck schauen sie auf eine Reihe von Indikatoren: Leistungsbilanzen, Refinanzierungsbedarf der nächsten zwölf Monate und Kreditwachstum im Privatsektor subsumieren sie im Bereich von Liquiditätsrisiken, Währung, Inflation und Abhängigkeit von Rohstoffmärkten im Bereich zyklischer Risiken. Ergebnis: In sieben Ländern sind die Risiken gegenwärtig beträchtlich – allen voran in der Türkei, aber auch in der Ukraine, in Chile, Kenia, Argentinien, Nigeria und Südafrika (siehe Grafik). Als ein Alarmsignal in dieser Gruppe, die sie gemäß den Anfangsbuchstaben „TUCKANS“ getauft haben, sehen sie, dass die Zinsen auf den lokalen Anleihemärkten bereits auffällig angezogen hätten.

Die Türkei, soweit herrscht Konsens, gilt als größter Problemfall. Höhere Fremdwährungsschulden, geringe Devisenreserven: Das Land sei für eine plötzliche Umkehr von Kapitalflüssen „besonders anfällig“, konstatiert William Jackson von Capital Economics. Der neue Notenbankchef Sahap Kavcioglu fiel bei seinem ersten Auftritt vor allem durch das auf, was er nicht kommunizierte: Er strich die Ankündigung seines Vorgängers, die Geldpolitik nötigenfalls weiter zu straffen, ersatzlos.