NOTIERT IN LONDON

Vom Happening zum Handgemenge

Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Der abgestandene Wahlspruch der westdeutschen Umweltbewegung fand sich diese Woche auf einem Transparent...

Vom Happening zum Handgemenge

Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Der abgestandene Wahlspruch der westdeutschen Umweltbewegung fand sich diese Woche auf einem Transparent in der Londoner City wieder. Davor saßen drei ältere Anhänger des Endzeitkults XR, gekleidet wie Oberstudienräte auf Bergtour, an einem gedeckten Tisch mit aufgerollten Banknoten auf ihren Tellern vor dem Eingang der Zentrale des Vermögensverwalters BlackRock. Die Szenerie wirkte wie eine Wiederholung deutscher Nachrichtensendungen aus den 1980er Jahren. Andere Aktivisten hatten sich mit Sekundenkleber an die Türen geklebt. Was man als irrationalen Akt der Selbstverstümmelung betrachten könnte, verursacht in London stundenlangen Betreuungsaufwand. Eine Spezialeinheit der Met Police tut alles, um die Mitglieder der Weltuntergangssekte, die mit simplen Slogans wie #PowerInTruth und #BankingOnBreakdown online hausieren geht, schmerzfrei vom Asphalt, von Glastüren oder Flugzeugen abzulösen. Die Wiederherstellung der Normalität ist dagegen nachrangig.Der Eingang zum “Walkie-Talkie” in der Fenchurch Street, in dem vor allem Versicherer ansässig sind, wurde von festgeklebten XR-Anhängern in gelben Kostümen blockiert. “Wären wir Bergleute, stünden wir bis zu unseren Hüften in toten Kanarienvögeln”, stand auf einem Transparent. Sonst wäre nicht zu erkennen gewesen, was die Laienspielgruppe darstellen wollte – ein Schuss in den Ofen überdies, denn wer weiß schon noch, welche Aufgabe Kanarienvögeln in Steinkohlebergwerken zukam? Die Finanzbranche müsse sich sofort von ihren Investments in fossile Brennstoffe trennen, lautete die Forderung der Demonstranten. Die Kreuzung vor der Bank of England wurde im morgendlichen Berufsverkehr blockiert, was vor allem den Busverkehr im Finanzviertel der britischen Metropole zum Erliegen brachte.”Die City finanziert den Klimakollaps”, behauptet XR-Sprecher Rupert Reed. “Es gibt keine Zukunft, solange das nicht aufhört.” Er sagt es mit der Selbstgerechtigkeit, die man von anderen Sekten kennt. “Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, was für ein Finanzsystem wir brauchen, um das Gedeihen von Leben auf der Erde zu fördern”, sagt XR-Mitgründerin Gail Bradbrook. Sie wurde festgenommen, als sie eine Scheibe am Eingang des Transportministeriums mit einem Hammer einschlug, um gegen Flughafenausbau und die neue Hochgeschwindigkeitsbahnverbindung HS2 zu protestieren – man darf daraus schließen, dass sich die immer wieder betonte Gewaltfreiheit der Sekte auf den Verzicht auf direkte Gewalt gegen Menschen beschränkt. Mit Freiheitsberaubung, Nötigung oder gefährlichen Eingriffen in den Schienen- und Luftverkehr hat sie dagegen weniger Probleme. Tausende saßen gestern in U-Bahnschächten und Stationen fest, weil sich Sektenanhänger im Bahnhof Shadwell an einen U-Bahnzug geklebt hatten. Einer von ihnen, ein 83-jähriger ehemaliger Bewährungshelfer aus Bristol, wurde bereits zum 13. Mal bei einer XR-Aktion festgenommen. Tatsächlich folgen auf die Festnahmen nur selten Strafen. Wenn dagegen Kurden auf die Situation in der türkischen Besatzungszone in Syrien aufmerksam machen wollen, können sie von einem derartigen Entgegenkommen von Lokalpolitik, Polizei und Justiz nur träumen.Nach knapp zwei Wochen Chaos reißt vielen Londonern der Geduldsfaden. Wie schnell sich die Happenings von XR zum Handgemenge entwickeln können, zeigte sich gestern: Ein bärtiger Anhänger des Kults stieg im morgendlichen Berufsverkehr am U-Bahnhof Canning Town auf einen Zug der Jubilee Line, um ihn an der Weiterfahrt zu hindern. “Business as usual = Tod”, stand auf einem Transparent. Wütende Berufspendler bewarfen den Mann mit Münzen und Kaffeebechern und zogen ihn schließlich vom Dach. Danach spielten sich brutale Szenen ab, die erst durch das heldenhafte Eingreifen eines Mitarbeiters von Transport for London beendet wurden. Das Geschwätz vom Klimanotstand, der alle Mittel rechtfertigt, wollen zumindest im Londoner Osten immer weniger Leute hören.