Vom Unruheherd zur Insel der Stabilität
Von Andreas Hippin, LondonWenn Großbritannien um Mitternacht die EU verlässt, werden viele noch das politische Chaos im Gedächtnis haben, das auf das Votum für den Brexit 2016 folgte. Der erdrutschartige Sieg von Boris Johnson bei den Parlamentswahlen beendete jedoch im vergangenen Monat das Kasperletheater im Unterhaus. Die Bevölkerung hatte sich ein weiteres Mal für das Verlassen der Staatengemeinschaft entschieden, ohne dass dafür ein erneutes Referendum nötig wurde. Seitdem ist Ruhe eingekehrt.Das Land wird auf dem europäischen Kontinent erheblich unterschätzt, denn das Vereinigte Königreich hat sich nahezu unbemerkt vom Unruheherd zur Insel der Stabilität entwickelt. Zwar wird der Brexit gerne als Beispiel für Populismus und “Antipolitik” – was immer das auch sein soll – herangezogen. Und Donald Trump pflegt gute Beziehungen zu Nigel Farage, dem einstigen Führer der UK Independence Party (Ukip), ohne den es nie zum EU-Austritt gekommen wäre. Aber trotz der Wahlerfolge von Ukip und Brexit Party bei den Europawahlen verfügen Parteien, die sich nicht dem politischen Mainstream zuordnen lassen, über kein einziges Mandat in Westminster. Die Regierung verfügt über eine solide Mehrheit von 80 Mandaten. Die unter Jeremy Corbyn stark nach links gerückte Labour Party hat eine so vernichtende Niederlage eingefahren, dass sie sich davon bis zu den nächsten Wahlen kaum erholen dürfte.Davon können Politiker in anderen europäischen Ländern nur träumen, in denen Parteien der extremen Linken und Rechten zuletzt große Zugewinne verzeichneten. Vermutlich fällt vielen gar nicht mehr auf, dass es kein Votum für die bestehenden Verhältnisse ist, wenn Matteo Salvinis ausländerfeindliche Lega Nord bei Regionalwahlen in der Emilia-Romagna 44 % der Stimmen erhält. Ähnlich prekär sieht es in Frankreich aus, wo Marine Le Pens Rassemblement National auf eine weitere Chance wartet. In Deutschland könnte sich Angela Merkels große Koalition Umfragen zufolge nur noch mit Hilfe Dritter an der Macht halten.Johnson kann sich dagegen zurücklehnen. Er wird sich nun bemühen, das berüchtigte B-Wort zu vermeiden. Schließlich will der Churchill-Fan als großer Staatsmann in die Geschichte eingehen, der die verfeindeten Lager miteinander versöhnte. Die Regierung begeht den Austritt ohne großes Tamtam, um die Gegner des britischen Alleingangs nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Sie sollte den schottischen Nationalisten ermöglichen, ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum zu verlieren. Eine harte Grenze zu Restbritannien wollen trotz aller Aversionen nur wenige Schotten.Die Tories profitieren davon, dass die britische Wirtschaft nicht, wie von den Austrittsgegnern für den Fall eines Ja zum Brexit prognostiziert, in den Abgrund stürzte. Ob Huawei oder Chlorhühnchen – die wirtschaftspolitischen Entscheidungen Johnsons sprechen für ein hohes Maß an Pragmatismus. Die Beschäftigung bewegt sich seit Monaten auf Rekordniveau. Der jüngsten Prognose des IWF zufolge wird Großbritannien im laufenden und im kommenden Jahr stärker wachsen als Deutschland und die Eurozone.