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Vom Wunder zum Wandel in Brasilien

Börsen-Zeitung, 23.6.2017 Die innenpolitischen Nachrichten der letzten zwei Jahre aus Brasilien wären ein gutes Drehbuch für eine Telenovela, denn die beliebten Fernsehromane müssen in täglichen Fortsetzungen für konstante Spannung sorgen. Das war...

Vom Wunder zum Wandel in Brasilien

Die innenpolitischen Nachrichten der letzten zwei Jahre aus Brasilien wären ein gutes Drehbuch für eine Telenovela, denn die beliebten Fernsehromane müssen in täglichen Fortsetzungen für konstante Spannung sorgen. Das war bei den Schlagzeilen rund um Brasilien seit 2015 nicht anders. Die tiefste Krise in der Geschichte des Landes steht seitdem im Mittelpunkt der allgemeinen Wahrnehmung. Trotzdem wurde gleichzeitig eine umfassende Transformation Brasiliens in Bewegung gesetzt, die gute Voraussetzungen für eine bessere Zukunft schafft. Und damit auch den Glauben der dort engagierten deutschen Unternehmen an das Land bestätigt. Frage der WahrnehmungUngeachtet der momentanen Aufregung um die politische und wirtschaftliche Zukunft des fünftgrößten Landes der Erde leidet Brasilien international generell unter einer verzerrten Wahrnehmung – auch bei uns in Deutschland. Assoziiert wird mit dem Land entweder Wunder oder Krise, wenn nicht das, dann vorwiegend Fußball oder landschaftliche Schönheit.Der nahezu ungebremsten Begeisterung für Brasilien um die Jahre 2009 bis 2013 – mit prognostizierten jährlichen Wachstumsraten von über 5 % – folgte wenige Jahre später tiefe Skepsis. Die Gründe für den Enthusiasmus: Das Land hatte eine ideale Ausgangslage, um sich langfristig als eine der größten Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt zu etablieren. Rohstoffboom, steigende Binnennachfrage durch eine aufstrebende Mittelschicht sowie massive ausländische Investitionsströme waren die Treiber eines kräftigen Wachstums. Aber es gab Hausaufgaben zu erledigen: Marktöffnung, Modernisierung und Ausbau der längst überforderten Infrastruktur sowie strukturelle Reformen, z. B. im Steuer- und Arbeitsrecht oder in der Rentenversicherung. Die Stimmung schlug in Skepsis um, weil Brasilien seine Chancen im ersten Anlauf verpasst hat und die Hausaufgaben eben nicht gemacht wurden.Zwar sind die über 1 300 deutschen Unternehmen mit etwa 250 000 Mitarbeitern bereits seit Jahrzehnten in Brasilien aktiv und mussten nicht zum ersten Mal schwierige Zeiten überstehen, dennoch sind die Auswirkungen der gegenwärtigen Rezession dramatisch. Umsätze sind zum Teil um zweistellige Prozentzahlen gesunken; besonders betroffen waren Schlüsselsektoren wie etwa die Automobilindustrie, der Maschinenbau, die Elektronikbranche oder die chemische Industrie.Das Jahr 2017 begann mit Zuversicht: Die Vorbereitungen von Reformen waren auf einem guten Weg, es zeigten sich erste Erfolge, wie z. B. die Begrenzung der Staatsausgaben für die kommenden Jahre. Das Bruttoinlandsprodukt ist mit 1 % im ersten Quartal wieder gewachsen – zum ersten Mal seit Anfang 2015. Auch in den Quartalszahlen deutscher Firmen spiegelte sich erstmals wieder eine kommende Markterholung. Vorsichtiger Optimismus war durchaus angebracht. Bis buchstäblich aus heiterem Himmel das nächste Kapitel der politischen Krise mit Korruptionsvorwürfen gegen Staatspräsident Michel Temer hereinbrach.Auch wenn die Unruhe groß ist: Die aktuelle Lage zeigt, dass Brasilien einen fundamentalen Transformationsprozess durchläuft. Ein “neues” Land ist im Entstehen, was nicht nur den deutschen Unternehmen dort, sondern ganz Brasilien gut tun wird. Grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft sind bereits jetzt Realität. Das zeigt sich am Verhältnis zu Korruption und deren Bekämpfung. Das Thema stand immer ganz oben auf der Liste von Hemmnissen für das deutsche Engagement im Lande. Die aktuellen Entwicklungen lassen erkennen, dass Korruption von der brasilianischen Bevölkerung nicht mehr geduldet wird. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Und auch das Rechtssystem tut seine Arbeit und ermittelt ohne Ansehen der Person. Es ist beeindruckend, dass die Aufarbeitungsmaßnahmen im Rahmen der sogenannten Operation “Lava Jato” nunmehr seit mehr als drei Jahren laufen. Diese wachsende Rechtssicherheit stärkt letztendlich das geschäftliche Umfeld des Landes in der Zukunft. Offen für ReformenGleichzeitig wächst das öffentliche Bewusstsein für ein besseres Wachstums- und Wohlstandsmodell. Diese Stimmung glättet auch die Wogen für die notwendigen Reformen, deren Dringlichkeit außer Frage steht. 210 Millionen Brasilianer streben nach mehr Qualität im täglichen Leben und sind offen für Lösungen. Ob beim Thema Mobilität, Digitalisierung, Gesundheit, Energie, Umwelt, Nachhaltigkeit oder Bildung – deutsche Unternehmen werden in Brasilien als innovative und zuverlässige Partner sehr geschätzt. Ein Alleinstellungsmerkmal, das uns gerade in Zukunft zugutekommen kann. Denn das Potenzial der bilateralen Zusammenarbeit ist noch längst nicht ausgeschöpft! Wir haben allerdings auch noch ein ganzes Stück diplomatische Arbeit vor uns: Zum Beispiel konnten Deutschland und Brasilien seit 2005 kein neues Doppelbesteuerungsabkommen verhandeln. Der Lateinamerika-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine positive Entwicklung im beiderseitigen Interesse zu fördern. Dass es sich lohnt, zeigen die Investitionen anderer Länder: Das jährliche Niveau aller ausländischen, darunter auch deutschen Investitionen in Brasilien hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt.Hinsichtlich der künftigen Entwicklung Brasiliens ist vieles offen, nur eines nicht: Es gibt kein Zurück mehr in das “alte” Brasilien. Der Wandel der Wirtschaft wie auch der politischen Kultur ist dafür schon zu weit fortgeschritten. Daher ist zu wünschen, dass die gegenwärtige politische Unsicherheit nachhaltig überwunden wird und weitere Reformen beherzt angegangen werden.Der Autor ist Vorsitzender des Lateinamerika-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und CEO der Volkswagen Truck & Bus GmbH und für Nutzfahrzeuge zuständiges Vorstandsmitglied der Volkswagen AG. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Andreas RenschlerTrotz aller Krisensymptome ist in Brasilien ein tiefgreifender Wandel im Gange, der gute Chancen für die Zukunft bietet.——-