Von Finanzoligarchen und Erbkapitalismus

Debatte über den demokratiefeindlichen Ansatz eines unbeschränkten Kapitalismus amerikanischer Prägung - Staatliche Ordnungspolitik als Schlüssel der Fairness

Von Finanzoligarchen und Erbkapitalismus

Von Stephan Lorz, FrankfurtIn den USA ist eine heiße Debatte über die schädlichen Wirkungen zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit entbrannt. Ökonomen wie die Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz geißeln in Aufsätzen und Blogeinträgen immer wieder die enormen Vermögensgewinne, welche die ohnehin bereits Vermögenden auf Kosten der ärmeren Schichten angehäuft hätten. Andere Ökonomen stimmen mit diesen Thesen überein und führen die Argumentation – vorwiegend im Netz – fort. Zuletzt hat auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in einer Studie davor gewarnt, dass Ungleichheit tendenziell das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft schmälert – von der sich aufstauenden Unruhe unter den Verliererschichten mit Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie ganz zu schweigen.Wie weit diese Entwicklung in den USA bereits fortgeschritten ist, weit jenseits der hinlänglich bekannten reinen Einkommensbetrachtung, zeigt eine eher unbekannte Statistik der OECD. Darin wird der Anteil jener Haushalte angegeben, welche innerhalb eines Jahres schon einmal zu wenig Geld für Nahrung hatten: In der Türkei war dies bei 32,7 % der Privathaushalte bereits der Fall, in den reichen USA mit 21,1 % aber ebenfalls überraschend viel. Pikant ist die Aufstellung, wenn man die Länder im Umfeld des US-Rankings betrachtet: In Russland ist die Hungerquote mit 21,0 % sogar einen Tick besser; und im Krisenstaat Griechenland waren es sogar nur 17,9 %. In Deutschland liegt die Quote dank des gut ausgebauten Sozialstaats nur bei 4,6 %. Diese Betrachtung gewinnt noch an Brisanz, wenn man bedenkt, dass der US-Kongress erst im Februar beschlossen hatte, die finanzielle Unterstützung für arme Haushalte beim Kauf von Essen (Food Stamps) zu kürzen.Auch die Einkommensverteilung in den USA gibt zu denken. Der US-Ökonom J. Bradford Delong kritisiert, dass inzwischen das reichste 1 % der US-Bevölkerung vom Gesamteinkommen aktuell ganze 22 % einstreicht; die reichsten 10 % kommen inzwischen auf mehr als die Hälfte aller Einkommen in den USA überhaupt. Das Einkommen der 10-Prozent-Topverdiener sei inzwischen zwei Drittel höher als das ihrer “Standeskollegen” 20 Jahre zuvor.Vor einigen Tagen hat die Debatte nun eine neue Schärfe erhalten mit der These, dass die USA von einer freiheitlichen Marktwirtschaft immer mehr in die Rolle einer oligarchisch geführten Autokratie hineinrutschen. Der französische Ökonom Thomas Piketty spricht in seinem Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert” (Krugman: “Das wichtigste Wirtschaftsbuch womöglich des Jahrzehnts”) von großem Reichtum, der sich immer mehr politischen Einfluss erkauft und damit die staatliche Regulierung in seinem Sinne lenkt. Intellektuelle BlaseViele Konservative, welche dem Staat Grenzen setzen möchten, lebten zudem in einer intellektuellen Blase von Denkfabriken, die von einer Handvoll extrem reicher Geldgeber finanziert würden, kritisiert Piketty. Er insinuiert damit auch eine gewisse Lenkung der öffentlichen Meinung, die oft in Gestalt unabhängiger ökonomischer Ratschläge und in Präsentationen wissenschaftlicher Zusammenhänge daherkommt, tatsächlich aber gefüttert werde durch Interessengruppen. Wie sich die Lage der meisten Menschen in der Gesellschaft tatsächlich darstelle, unter welchen Mühen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten müssten, das komme bei den Personen in dieser Blase gar nicht an, schreibt er vorwurfsvoll. Diese Anklage hat in den USA und in den ökonomischen Blogs einen regelrechten Debattensturm entfacht.Dass der Oberste Gerichtshof in den USA nun die Beschränkung für Wahlkampfspenden auch noch aufgehoben hat, dürfte die Kritik am politischen Einfluss des Geldadels zuletzt noch gesteigert haben. Abgesehen davon, dass es auch bisher schon Umgehungsmöglichkeiten gegeben hatte, durfte eine einzelne Person in den zwei Jahren vor einer Wahl bisher insgesamt maximal 123 200 Dollar (knapp 90 000 Euro) an Kandidaten und Parteien spenden. Die Grenze schränke die verfassungsmäßige Meinungsfreiheit ein, urteilte der Supreme Court in Washington nun. Viele Stimmen kritisierten daraufhin, dass mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung die ohnehin große Rolle des Geldes in der amerikanischen Politik weiter verstärkt wird. Dabei hatte das Gericht schon 2010 die Grenzen für Parteispenden von Unternehmen und Gruppen deutlich aufgeweicht.Als Beleg einer von einer (Kapital-)Machtelite gelenkten Politik führen viele Ökonomen etwa die steuerliche Begünstigung von Vermögenseinkommen gegenüber den Einkommen abhängig Beschäftigter an. Oder die Rettungspolitik im Nachgang zur Finanzkrise. Auch die ultralockere Geldpolitik der US-Notenbank Fed, betont etwa Krugman, hätte zusammen mit den Anleihekäufen in diese Richtung gewirkt. Schließlich seien Banken gerettet worden. Zuvorderst hätten also jene zusammen mit den großen Investoren von dieser Politik profitiert; letztere, weil sie kaum Abschreibungen hätten vornehmen müssen.Der international bekannte Wirtschaftshistoriker Harold James verweist auf den Erleichterungsboom an den Märkten, der durch die unkonventionelle Geldpolitik losgetreten worden sei. Von den Kursgewinnen hätte nur eine Minderheit profitiert, die an den Finanzmärkten engagiert sei. Schon jetzt, so Krugman, stelle die Politik die Interessen der Reichen über jene der Normalbürger. Überschreite diese Ungleichheit ein gewisses Maß, nähre sie sich stetig selber. Krugman: Reichtum dominiert die Arbeit.Einen Grund für diese Politik sehen Ökonomen wie Krugman und Stiglitz in der Tatsache, dass die handelnden Politiker selbst zu den Topvermögenden zu rechnen sind und damit auch Ihresgleichen bevorzugen. 20 % der reichsten Amerikaner würden 85 % der Finanzanlagen besitzen. Und fast alle US-Senatoren gehörten ohnehin zu den Top-1-Prozent der reichsten Amerikaner, weshalb sie ein natürliches Interesse hätten, dass die Vermögenseinkommen durch Finanzkrisen oder die Politik nicht geschmälert oder gar vernichtet würden.Insofern dürfte auch der Vorschlag von vornherein keine Chance auf Verwirklichung haben, in dem Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller eine Indexierung des Steuersystems fordert: Je größer die Ungleichheit in der Gesellschaft, desto stärker müssten die Steuersätze auf Kapital steigen. Shiller ist sich im Klaren darüber, dass unter den obwaltenden Mehrheitsverhältnissen und der prägenden politischen Haltung ein solcher Vorschlag wohl kaum durchsetzbar wäre. Eine Realisierungschance bestünde allenfalls dann, wenn immer größere Teile der Gesellschaft erkennen, dass sie immer geringere Chancen auf einen Aufstieg haben.Derzeit, so monieren Piketty, Krugman und Stiglitz, verschlimmere sich die Lage noch weiter – und das mit zunehmender Geschwindigkeit. Zum einen, weil die Wirtschaft in den Industrieländern insgesamt nicht mehr so schnell wächst, weshalb auch die Entwicklung der Lohneinkommen den Vermögenseinkommen immer weiter hinterherhinke. Denn die Vermögen würden weltweit angelegt, wo die Renditen noch höher seien, während die Arbeit lokal verhaftet sei und mit Niedriglohnländern konkurrieren müsse. Kaum OptimismusZum anderen, weil sich inzwischen ein “aggressiv agierender Erbkapitalismus” gebildet hat, wie Krugman geißelt. Ein immer größerer Teil der Superreichen habe sein Vermögen inzwischen ererbt. Sechs der zehn reichsten Amerikaner seien Erben und keine Unternehmer aus eigener Kraft mehr, führt er an. Die Kommandobrücken der Wirtschaft würden damit nicht vom Reichtum schlechthin, was schon schlimm genug sei, beherrscht, sondern von ererbtem Reichtum. Und Piketty schreibt vor diesem Hintergrund: “Die Gefahr einer Entwicklung unserer Demokratie zu einer regelrechten Oligarchie ist real und berechtigt zu wenig Optimismus.”Das von den Ökonomen skizzierte Gesellschaftsbild, in dem eine gierige reiche Minderheit sich der Wirtschaftskraft einer ganzen Nation bemächtigt hat, mag überzeichnet und zugespitzt sein, und viele Entscheidungen gerade während der Finanzkrise, die jetzt als “Liebesdienst” für die Vermögenden erscheinen, wurden oftmals in der Überzeugung getroffen, dass damit Schlimmeres verhütet werden kann. Aber die auch historisch rekordverdächtige Ungleichheit in den Einkommen und den Vermögen in den USA, die an überwunden geglaubte Klassenkampfzeiten erinnert, hat eine Debatte in Gang gesetzt, der man sich nicht mehr entziehen kann – und auch nicht sollte. Die Beantwortung der Frage nach der Chancengleichheit in einer Marktwirtschaft bildet schließlich die Basis für die Berechtigung dieses Wirtschaftssystems in einer demokratischen Gesellschaft.Grundsätzlich wohnt den Akteuren im kapitalistischen System durchaus der Drang inne, sich gegenüber ihren Mitkonkurrenten stets gewisse Vorteile zu verschaffen – nicht nur durch mehr Leistung, mehr Effizienz oder höhere Intelligenz, sondern auch durch die Manipulation von Politik, gesellschaftlichen Institutionen, aber auch der öffentlichen Meinung. Der Kapitalismus ist also, was seine gesellschaftlich als “fair” empfundenen Ergebnisse angeht, nicht selbstkorrigierend. Deshalb gibt es die Kartellgesetzgebung, die Fusionskontrolle und das Steuerrecht, das über seine Umverteilungskomponente zum einen eine Basisversorgung der Bürger garantieren und zum anderen die Chancengerechtigkeit herstellen soll.Der Kampf vieler Ökonomen vor einigen Jahren gegen die erdrückende Dominanz des Staats in der Wirtschaft, gegen Überregulierung und für Privatisierung hat hier offenbar die Machtverhältnisse über das sinnvolle Maß hinaus verschoben zugunsten einer reichen Oberschicht. Denn vielfach wurde damit auch die ordnungssetzende Macht des Staates zurückgedrängt, die entscheidend ist, um für ein faires Umfeld an den Märkten zu sorgen. Obszön hohe BoniDie negativen Folgen sind bereits sichtbar: So werden im kaum regulierten amerikanischen Hochfrequenzhandel wenige Häuser begünstigt, die Masse der Anleger aber benachteiligt. Und Bonussysteme verhelfen selbst jenen Marktakteuren zu obszön hohen Geldsummen, die mit ihren Entscheidungen das eigene Unternehmen nur kurzfristig in günstigem Licht erscheinen lassen, längerfristig aber die Existenzrisiken eher erhöhen. Das “Grundgesetz” des Marktes, dass Chance und Risiko zwei Seiten einer Medaille sind, wird oftmals ausgehebelt – auch durch Staatshandeln in der Euro-Schuldenkrise. Und wie weit die verbrecherischen Aktivitäten an den Märkten bereits gediehen sind, zeigen die Skandale etwa beim Goldfixing oder Devisenhandel, wo Akteure offenkundig den Preismechanismus am Markt manipuliert hatten. Der Staat als Ordnungspolitiker und Aufsichtsinstanz, als Garant für Teilhabe und Chancenwahrung ist gefragter denn je und darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen.