ANSICHTSSACHE

Von Mäusespeck und Negativzinsen

Börsen-Zeitung, 25.11.2016 Beim ultimativen Kampf für höhere Inflationserwartungen scheint sich die Europäische Zentralbank (EZB) am österreichischen Fußballphilosophen und ewigen Helden von Cordoba, Hans Krankl, zu orientieren: "Wir müssen...

Von Mäusespeck und Negativzinsen

Beim ultimativen Kampf für höhere Inflationserwartungen scheint sich die Europäische Zentralbank (EZB) am österreichischen Fußballphilosophen und ewigen Helden von Cordoba, Hans Krankl, zu orientieren: “Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär.” Trotz heftiger Kritik wegen zunehmend schädlicher Nebenwirkungen wird der eingeschlagene Weg unbeirrt fortgesetzt. “Nimm 2”-GeldpolitikWenn nun im Dezember auch nochmals tiefere Tiefpunkte für den negativen Einlagensatz diskutiert werden, sollte unbedingt der österreichisch-amerikanische Psychologe Walter Mischel zur Ratssitzung eingeladen werden. Zur Begründung dieses Vorschlags muss man in die 1960er Jahre zurückgehen. Damals führte Professor Mischel in den USA Persönlichkeitsexperimente durch, die später als “Marshmallow-Test” bekannt wurden. Dabei wurde Vorschulkindern ein Marshmallow (Mäusespeck) angeboten. Sie hatten die Wahl, diesen entweder sofort zu essen oder bis zur unbestimmten Rückkehr des Erwachsenen, meist 15 Minuten, zu warten. Bei Impulskontrollen bekamen sie dann als Belohnung eine zweite Süßigkeit. Mischel beobachtete zum einen das Verhalten der Kinder während der Wartezeit, etwa ihre Methoden, um sich abzulenken. Zum anderen begleitete er die Probanden aber auch in einer Langzeitstudie. Hierbei stellte sich heraus, dass Kinder, die Willensstärke und Selbstdisziplin aufwiesen, langfristig erfolgreicher in Berufs- und Familienleben waren als Kinder, die der “süßen” Versuchung nicht lange widerstehen konnten. Letztlich sind die Ergebnisse eine experimentelle Bestätigung der Kardinaltugend Geduld.Auch vor diesem verhaltenswissenschaftlichen Hintergrund ist die heutige Zinspolitik äußerst bedenklich und gibt Anlass zu großer Sorge. Negativzinsen bestrafen Geduld – sprich Sparen – und sind ein Plädoyer für Ungeduld – sprich Sofortkonsum und Kreditaufnahme. Sie stellen die Ergebnisse Mischels geradezu auf den Kopf, und das in Zeiten historisch hoher Verschuldung.Um die von ihnen deutlich übertrieben wahrgenommenen Deflationsrisiken zu bekämpfen, haben sich die Notenbanker somit auf gefährliches Terrain begeben. Erstens verzerren Anleihekäufe die Marktpreiswirkung und Signalfunktion der Zinsen. Sie führen zu einer Fehlallokation von Kapital, mit der mittelfristigen Gefahr von Finanzmarktblasen. Zweitens schaden Negativzinsen dem Bankensektor. Er wird seiner wesentlichen Ertragsquelle, der Zinsmarge, beraubt. Seine so wichtige Funktion als Mittler und Bote im monetären Übertragungsmechanismus ist damit gefährdet. Drittens gibt es die beschriebenen verhaltenspsychologischen Folgen: Die Geldpolitik fördert eine bedenkliche “Nimm 2”- Mentalität: Nimm alles und nimm es gleich. Und viertens schließlich steht zu befürchten, dass die außergewöhnlichen Aktionen mittlerweile mehr zur Unsicherheit als zur Stabilität beitragen. Das unbehagliche Gefühl, Negativzinsen sind etwas Widernatürliches – ja sogar Unlogisches – ist nicht von der Hand zu weisen.Wenn eine Zentralbank nun den Zins als Dreh- und Angelpunkt des Kapitalmarktes mehr oder minder abschafft, fördert sie ungewollt den generellen Vertrauensverlust, der sich zunehmend wie Mehltau auf das gesellschaftspolitische Koordinatensystem legt. Höchste Zeit also, sich mit dem Absetzen der geldpolitischen Not-Medikamente zu beschäftigen. Wie mühselig das Tapering werden kann, zeigt der seit fast vier Jahren in Zeitlupe stattfindende “Ausschleichprozess” in den USA. Die bekannt langen Wirkungsverzögerungen beim Instrumenteneinsatz hätten bereits beim Verschreiben der Medikamente mehr Geduld und Langmut erfordert. Zumal die EZB de lege kein Inflationsziel im engeren Sinne, ein Inflation Targeting, verfolgt. Es gab somit wenig Grund für die interventionistische Hektik der letzten Jahre. “Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht”, weiß ein afrikanisches Sprichwort. Überforderte NotenbankenSchließlich ist eine offene und selbstkritische Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Geldpolitik erforderlich. Mangels Fähigkeit und Willens zu mitunter schmerzhaften politischen Reformen wurde die EZB von ihrer eigentlichen Funktion – Hüterin der Geldwertstabilität – mehr und mehr in die Position des Tausendsassas gedrängt: Im Fußballjargon wäre sie Ausputzer, Spielmacher, Flankengott und Torjäger in einer Person. Das kann nicht funktionieren. Zumal einiges dafür spricht, dass das derzeit überschaubare Wirtschaftswachstum aus einer klassischen Angebotsschwäche resultiert. Übergeordnete Trends wie De-Globalisierung (Brexit), Demografie und Re-Regulierung wirken trendwachstumsdämpfend. Ohne potenzialorientierte Strukturreformen wird sich daher an dem konjunkturellen Auf ohne Schwung nichts ändern.Im Ergebnis hat sich der Effekt von Zentralbanken als schnelle Eingreif- und Putztruppe abgenutzt. Mehr noch: Eine Überforderung der Institution gefährdet deren höchstes Gut, das Vertrauen, und über zunehmenden Populismus jetzt auch die Unabhängigkeit. Bürgerbewegungen, wie die amerikanische Fed-up (übersetzt “Wir haben die Nase voll”), lassen grüßen.Die Notenbanken haben dieser Diskussion unnötig Vorschub geleistet, indem sie ihr Mandat überreizen und quasi auch Finanzpolitik betreiben. Zu Letzterem sind sie als Instanz nicht legitimiert. Akademisierte Diskussionen über fragwürdige Maßnahmen wie Helikoptergeld oder das Thema Bargeld-Abschaffung ähneln in diesem Umfeld dann schon fast einem Zündeln mit Streichhölzern, um den Füllstand des Benzintanks zu prüfen. Weniger Aktionismus und eine Rückbesinnung auf Walter Mischel und die Vorzüge der Geduld wären daher wünschenswert – für die Geldpolitik und uns alle.—-Ingo Ralf Mainert ist Chef-Anlagestratege Multi Asset Europa bei Allianz Global Investors.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Ingo Ralf MainertDie Überforderung der Institution EZB gefährdet deren höchstes Gut: Das Vertrauen. Mehr Geduld wäre nötig.——-