Von Wildschweinen, Geiern und Bienen
Dass im 21. Jahrhundert die Demokratie in Angesicht von Digitalisierung und Globalisierung unter Druck geraten würde, das hatten sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht träumen lassen. Sie bauten nach der Zäsur 1945 in Deutschland ein politisches System, das den Vorstellungen des demokratischen Miteinanders in der aufgeklärten westlichen Welt entsprach. Dazu gehört auch eine starke Stellung der Opposition im Bundestag. Zur Kontrolle der Regierung sind den Oppositionsfraktionen bestimmte Rechte eingeräumt – unter anderem dürfen sie die Regierung mit Kleinen Anfragen in die Zange nehmen. Diese nutzt die Opposition, um sich zu informieren, heikle Punkte zu thematisieren oder den Kurs der Regierung zu kritisieren. Das Kontrollinstrument wurde bereits 1912 im Reichstag eingeführt.Ausgerechnet daran will die Bundesregierung nun rütteln. In einem Schreiben an die Fraktionsgeschäftsführer, das in diesen Tagen bekannt wurde, bittet das Kanzleramt um Reduzierung der Anfragen. Eine “gemeinsame und für alle Seiten tragfähige Übereinkunft”, wird demnach angestrebt, denn das Aufkommen der Kleinen Anfragen ist explodiert. In den Ministerien bindet das Auskunftsbegehren enorme Ressourcen. Die Regierung muss innerhalb von 14 Tagen schriftlich antworten. In der aktuellen Legislaturperiode wurden bislang knapp 6 200 solcher Anfragen gestellt. In der 17. Wahlperiode bis 2013 waren es mit fünf Fraktionen im Bundestag 3 629, in der 18. Wahlperiode bis 2017 mit vier Fraktionen 3 953 Kleine Anfragen. Bei der Opposition stößt der Vorstoß der Regierung auf Abscheu und Empörung. Wehret den Anfängen, warnen besorgte Demokraten. Es liegt nahe, dass in einem Parlament mit sechs Fraktionen der Wissensdurst steigt. An der Spitze liegen AfD und FDP mit jeweils rund 1 800 Anfragen, gefolgt von der Linken mit knapp 1 600 Anfragen und den Grünen mit etwas mehr als 1 000.Bei aller Sensibilität, die Grundfesten des demokratischen Systems nicht einmal anzurühren: So manche Anfrage wirft selbst Fragen auf. So erkundigt sich die AfD derzeit bei der Regierung nach Zahl und Bedeutung der Auslandschinesen für die Volksrepublik China. Sie will wissen, welche Rolle der “länderübergreifende Zusammenhalt der Chinesen für die Art und Weise des chinesischen Wirtschaftens” spielt. Die FDP begehrt Auskunft zum “Papierverbrauch in Bundesbehörden seit Bestehen des Internets”, also seit 1990, und will wissen, wie viele Bäume seitdem dafür sterben mussten. Ohne die Anfrage der Grünen hätte man nicht erfahren, dass die Bundesregierung Dienstreisen nach Möglichkeit durch Videokonferenzen ersetzen will, um ihren CO2-Verbrauch zu senken. Nach Zahl und Rasse von “Deutschlands Diensthunden” fragt nicht etwa die AfD, sondern die FDP, nachdem amerikanische Spezialkräfte im Nordwesten Syriens den Anführer der Terrormiliz “Islamischer Staat” ergriffen hatten. Die Antwort darauf wird mit Spannung erwartet: Denn die Fraktion erkundigt sich auch, ob der Bund den Einsatz von Tieren wie Wildschweinen, Geiern oder Bienen geprüft hat.