Vorbeugende Kreditlinien im Fokus

Ökonomen halten eine Aktivierung des ESM in der Coronakrise für sinnvoll

Vorbeugende Kreditlinien im Fokus

Von Andreas Heitker, BrüsselDie Europäische Zentralbank (EZB) hat mit ihrem neuen Anleihekaufprogramm den Druck aus der Debatte genommen, im Kampf gegen die Coronakrise auch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu aktivieren. Viele deutsche Ökonomen halten es nichtsdestoweniger für sinnvoll, weiter über den Einsatz von ESM-Geldern für besonders betroffene Euro-Staaten nachzudenken. Es sei sinnvoll, sagt etwa Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), “weil der ESM genau für solche Krisen geschaffen wurde und im Vergleich zu den EZB-Krisenhilfen das demokratisch besser legitimierte Instrument ist”.Und Jürgen Matthes, der beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) den Bereich Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur leitet, verweist darauf, dass in der aktuell absoluten Ausnahmesituation auch sehr außergewöhnliche Reaktionen gefragt seien, um die riesigen Hilfspakete der Euro-Länder abzusichern und Staatspleiten zu verhindern. “Die EZB kann das nicht allein, auch die Fiskalpolitik ist gefordert. Europa muss hier zusammenstehen. Dazu kann eine vorbeugende Kreditlinie des ESM eine Möglichkeit sein.” Stigma oder Hilfe?Der Europäische Stabilitätsmechanismus hat seit seiner Gründung zwei unterschiedlich strenge vorbeugenden Kreditlinien in seinem Instrumentenkasten, die bislang allerdings noch nie genutzt wurden. Die Mittel, so die Idee, können Ländern gewährt werden, die zwar unter einem Marktstress stehen, sich aber wohl noch aus eigener Kraft aus der Krise ziehen können und für die daher das “große” ESM-Anpassungsprogramm nicht geeignet erscheint. In diesem Fall kommt hinzu: Es geht beim Coronavirus nicht um eine hausgemachte Krise – wie im Fall von Griechenland -, sondern fast schon um so etwas wie “höhere Gewalt”. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat eine ähnliche vorbeugende Kreditlinie schon mehrfach erfolgreich eingesetzt. Beim ESM überwog stets die Sorge vor einem “Stigma-Effekt”. Die Kreditvergabe an ein Land könne bei den Märkten schnell als ein Krisensignal verstanden werden, so die Befürchtung.In der Eurogruppe haben die Finanzminister zu Wochenbeginn bereits über die Einbeziehung des Eurorettungsschirms in das Corona-Hilfsprogramm gesprochen, ohne aber schon zu einer Entscheidung zu kommen. Immerhin müssten der Aktivierung einer vorbeugenden Kreditlinie immer auch alle 19 Euro-Staaten zustimmen. Und das kann dauern. “Es wäre besser, wenn nicht immer die EZB Feuerwehr spielen muss”, moniert Bert Van Roosebeke, der zuständige Fachbereichsleiter bei der Freiburger Denkfabrik Centrum für Europäische Politik (Cep). “Mit den vorbeugenden Kreditlinien des ESM haben wir ein Instrument, das in dieser Situationen hätte eingesetzt werden können. Es spricht Bände, wenn die Finanzminister sich diesen Einsatz nicht zutrauen, weil sie den kompletten Vertrauensverlust der Investoren gegenüber Italien befürchten.”ZEW-Ökonom Heinemann verweist zudem darauf, dass ESM-Kredite nie ohne Auflagen vergeben werden und daher immer auch die Möglichkeit schaffen, auf die Empfängerländer Einfluss auszuüben. “Es ist zwar korrekt, dass die Seuche ein unverschuldeter Katastrophenfall ist”, sagt er. “Sehr wohl tragen Länder aber eine Verantwortung dafür, in welcher ökonomischer Verfassung sie sich vor Ausbruch der Krise befanden, zum Beispiel in Bezug auf ihre Spielräume für Neuverschuldung.” Tür für OMT wird geöffnetNach Einschätzung von Van Roosebeke hat das neue EZB-Ankaufprogramm erst einmal für ein wenig Beruhigung gesorgt. Damit sei auch ein ESM-Programm zunächst in den Hintergrund gerückt – “allerdings weiß man nicht für wie lange”. Zudem gibt es Verbindungen zwischen der Zentralbank und dem Eurorettungsschirm: Die Vergabe einer vorbeugenden Kreditlinie an ein Land würde der EZB auch die Tür für ihr Not-Anleihekaufprogramm OMT öffnen, das bislang ebenfalls noch nie aktiviert wurde.Nach Einschätzung von IW-Ökonom Matthes ist eine grundsätzliche Aufweichung der ESM-Regeln nicht nötig, um eine vorbeugende Kreditlinie zu nutzen. “Allerdings sollte rechtlich klargestellt werden, dass die zu findenden Maßnahmen nicht bei normalen Bedingungen zur Verfügung stehen”, betont er. Sein Kollege Heinemann sieht allerdings ohnehin politische Probleme, den ESM mit einzubeziehen. Wo sogar wohlhabende Euro-Staaten vor der tiefsten Rezession ihrer Geschichte stehen könnten, sei die Bereitschaft zur Hilfe für andere Länder leider wenig ausgeprägt. “Es kommt daher wohl so wie 2012: Die EZB handelt, die Fiskalpolitik mauert.”