Vorlesung mit Jacob Wallenberg
Notiert in Zürich
Vorlesung mit Jacob Wallenberg
Von Daniel Zulauf
Den Auftritt eines Wallenbergs sollte man sich auch als Schweizer nicht entgehen lassen. Seit der Fusion zwischen BBC und Asea zu ABB im Jahr 1988 reicht die Einflusssphäre der legendären schwedischen Industriellenfamilie weit in die helvetische Industrie hinein. Und von Leuten, denen nachgesagt wird, dass sie seit mehr als einem Jahrhundert ein Drittel der schwedischen Wirtschaft kontrollieren, kann man sich erhellende Einsichten erhoffen.
Vergangene Woche sprach Jacob Wallenberg, Vizepräsident von ABB und Präsident der größten ABB-Aktionärin, der schwedischen Industriebeteiligungsfirma Investor AB, auf Einladung des Europa-Instituts an der Universität Zürich. "Building a competitive Europe" sei ein Thema, das ihm sehr am Herzen liege, sagte der eloquente Milliardär. Aber dass man gerade ihn, einen reinen Geschäftsmann, dazu sprechen lasse, habe ihn doch überrascht.
Tatsächlich weiß man spätestens seit den Zeiten des schwedischen Dynamit-Erfinders Alfred Nobel, dass erfolgreiche Geschäftsleute besonders gut darin sind, Monopole zu finden, mit deren Hilfe risikoloses Geldverdienen leichter fällt als im Wettbewerb. Es ist gewiss ein Zufall, dass der findige Chemiker Alfred Nobel, ein Pionier der Monopolwirtschaft im modernen Industriezeitalter, ein Schwede war. Aber es ist sicher kein Zufall, dass die Wallenbergs ihren Reichtum über fünf Generationen hinweg zu halten und sogar zu mehren wussten.
"Das Alte zu verlassen für das, was kommt, ist die einzige erhaltenswerte Tradition", zitierte Wallenberg seinen Großvater Marcus, der 1946 seinen Bruder überzeugt habe, die Eisenbahninteressen der Familie zu verkaufen und stattdessen in die neu entstehende Flugindustrie zu investieren – ein Zug, aus dem die Airline SAS entstanden sei.
Alles drehe sich um Kontinuität und Wandel und irgendwo in diesem Wechselspiel sei die Wettbewerbsfähigkeit der EU auf der Strecke geblieben, erfährt man im universitären Hörsaal von einem Redner, der die von einem Geschäftsmann erwartbaren pragmatischen und wohl auch nicht uneigennützigen Rezepte anpreist. "Business und Politik müssen zusammenarbeiten", wirtschaftlich sei Europa gegenüber den USA und China schon weit ins Hintertreffen geraten und 2030, ein europäischer Meilenstein für viele wichtige wirtschaftspolitische Ziele, sei schon "alarmierend nahe".
Den fünf Handlungsfeldern, die Wallenberg am runden Tisch mit den Chefs der 60 größten europäischen Industrie- und Technologiefirmen erarbeitet hat, ist der praktische Nutzen in der Tat nicht abzusprechen. Vollendung des europäischen Binnenmarktes durch weniger Harmonisierung und einfachere Regulierung. Mehr Innovation durch einfachere Zulassungsprozesse und mehr staatliche Förderung. Weniger CO2 durch mehr staatliche Investitionsprogramme nach amerikanischem Vorbild und weniger Vorschriften. Mehr staatliche Vorleistungen zum Aufbau des 5G-Mobilfunkstandards. Und mehr (staatliche) Investitionen in die Bildung und Fortbildung der Arbeitnehmenden, von denen viele durch den Vormarsch der künstlichen Intelligenz ihren Job verlieren könnten.
Plausibel ist auch Wallenbergs Mahnung, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen von großer Dringlichkeit ist. Doch dann sagt Wallenberg auch: Für ihn als Eigentümer von Unternehmen sei es fundamental, deren individuelle Wettbewerbspositionen zu verbessern. Den unausgesprochenen Nachsatz muss man sich als Zuhörer denken: Im Zweifel kommt die Wettbewerbsfähigkeit Europas nach der Wettbewerbsfähigkeit der Wallenberg-Unternehmen. Erfolgreiche Geschäftsleute sind bekanntlich gut darin, sich mit jeder Art von Politik zu arrangieren. Das alte schwedische Hochsteuermodell hat den Reichtum der Wallenbergs nicht geschmälert – eher im Gegenteil. Man hätte gern erfahren, was es für Schweden und Europa bedeutet, dass dieses alte Modell gerade spektakulär auseinanderzubrechen scheint. Doch das war für Jacob Wallenberg in Zürich nicht der Rede wert.