GASTBEITRAG

Wachstum auf Pump

Börsen-Zeitung, 14.12.2017 Eigentlich ist es atemberaubend: In historischer Betrachtung ist die Weltwirtschaft derzeit einer ungewöhnlichen Vielzahl von Risiken ausgesetzt. Die Märkte aber kennen nur eine Richtung: aufwärts zu immer neuen Gipfeln....

Wachstum auf Pump

Eigentlich ist es atemberaubend: In historischer Betrachtung ist die Weltwirtschaft derzeit einer ungewöhnlichen Vielzahl von Risiken ausgesetzt. Die Märkte aber kennen nur eine Richtung: aufwärts zu immer neuen Gipfeln. Inzwischen, so stellte der Internationale Währungsfonds (IWF) erst jüngst fest, hat der Aufschwung nahezu alle Regionen weltweit erfasst. Und die fünf Wirtschaftsweisen sehen in Deutschland sogar Anzeichen für eine konjunkturelle Überhitzung.So erfreulich der aktuelle Befund auch zu sein scheint – er wirft doch die Frage auf, aus welchen Quellen sich der überraschend kräftige Aufschwung eigentlich speist. Da sind zum einen sicher die Energiepreise, die seit dem Jahr 2014 drastisch gefallen sind und seither die Volkswirtschaften der Öl importierenden Länder antreiben – ganz so, als stecke ein groß angelegtes Konjunkturprogramm dahinter. Ebenso dürften Nachholeffekte nach der größten Krise in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte eine Rolle spielen. Vor allem die Investitionstätigkeit war wegen der anhaltenden Unsicherheit bis weit in die Nachkrisenjahre hinein extrem verhalten. Riesiges ExperimentUnd doch gibt es einen Treiber des Aufschwungs, der alle anderen in den Schatten stellt: die Zinsen! Es ist und bleibt das größte geldpolitische Experiment der jüngeren Vergangenheit, dass die großen Notenbanken der westlichen Welt im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise auf eine extrem lockere Geldpolitik eingeschwenkt sind. In der Folge sind auch die Kapitalmarktzinsen extrem gefallen. Und sie bleiben niedrig. Auch im Jahr zehn nach Ausbruch der Krise sind die Realzinsen auf sehr niedrigem Niveau. In den USA etwa, wo die Wirtschaft seit neun Jahren im Aufschwung ist und im Bereich der Vollauslastung der wirtschaftlichen Kapazitäten operiert, ist der Realzins am Geldmarkt mit knapp – 1,0 % deutlich negativ, und das trotz der bereits erfolgten mehrfachen Leitzinsanhebungen.Noch gravierender ist der Befund in Euroland. Da der Leitzins hier weiterhin bei null liegt, beträgt der Realzins am Geldmarkt – 1,8 %. Nimmt man die Effekte des Anleihekaufprogramms der Europäischen Zentralbank (EZB) hinzu und berechnet den Realzins mit Hilfe des sogenannten Schattenzinses, so liegt er noch deutlich darunter. Dass die Konjunktur im Euroraum hierauf reagiert und dass das insbesondere in Deutschland – einem Land, das die Krise seit langem überwunden hat, – massive konjunkturelle Schubkräfte entfaltet, verwundert nicht.Der zinsgetriebene Wirtschaftsboom erinnert dabei doch an die Konvergenzphase vor und nach Einführung der europäischen Einheitswährung. Das aber ist keine gute Erinnerung: Auch damals sind die Realzinsen in den späteren Krisenländern massiv gefallen. Für die sogenannten GIIPS-Staaten (Griechenland, Italien, Irland, Portugal und Spanien) betrug der Rückgang der langfristigen Realzinsen in den Jahren von 1995 bis Ende 1998 durchschnittlich rund 6,5 Prozentpunkte. Damit wurde ein Wirtschaftsboom ausgelöst, der noch deutlich stärker war als der aktuelle.In Spanien etwa lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1999 bis 2008 bei 3,6 %. In Griechenland betrug sie 3,5 % und in Irland sogar 5,4 %. Dabei wurde das Wachstum in diesen Regionen von den zinsabhängigen Nachfragekomponenten getragen – und hier vor allem vom Bauboom. So wurden in Spanien in der Phase der Hochkonjunktur 700 000 neue Wohnungen gebaut, mehr als in Frankreich und Deutschland zusammen.Gänzlich vernachlässigt aber – weil durch das starke konjunkturelle Wachstum kaschiert – wurden in dieser Phase die strukturellen Herausforderungen wie die schwache Innovationskraft, das niedrige Produktivitätswachstum oder die geringe preisliche internationale Wettbewerbsfähigkeit. Dabei wäre essenziell gewesen, diese grundlegenden Defizite anzugehen. Aber schon damals wurde die Chance, die das günstige Zinsumfeld eigentlich bot, nicht genutzt.Aus heutiger Sicht ist nicht zu erwarten, dass sich das Zinsgefüge abrupt ändern wird. Dass es auf Dauer so niedrig bleibt, damit ist aber auch nicht zu rechnen. Hierauf hat auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann hingewiesen. Spätestens in einem Umfeld wieder steigender Zinsen dürfte sehr deutlich werden, dass viel vom aktuell hohen Wachstum schlicht vorgezogenes Wachstum ist – also Wachstum auf Pump. Gegenreaktion drohtEin Zinsanstieg, der laut einer aktuellen Studie der Bank of England durchaus kräftig ausfallen könnte, kann so eine deutlich schärfere konjunkturelle Gegenreaktion heraufbeschwören, als dies bei einer Geldpolitik zu erwarten wäre, die weniger lange im Krisenmodus agiert. Um die konjunkturellen Vorzieheffekte nicht zu groß werden zu lassen, darf die aktuelle Niedrigzinsphase nicht zu lange dauern. Die Verringerung der EZB-Käufe zu Jahresbeginn 2018 ist daher allenfalls ein erster kleiner Schritt. Der geldpolitische Kurswechsel muss bei Fortsetzung des stabilen Aufschwungs sicher schneller erfolgen als derzeit geplant.—-Klaus Wiener, Chefvolkswirt Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)