GASTBEITRAG

Warum die Corona-Proteste ernst zu nehmen sind

Börsen-Zeitung, 23.5.2020 Die Coronakrise ist zum zentralen Gegenstand der gesellschaftspolitischen Diskussion in Deutschland geworden. Die herrschende Sichtweise, dass das Virus bei ungebremstem Verlauf zu Hunderttausenden von Toten führen würde,...

Warum die Corona-Proteste ernst zu nehmen sind

Die Coronakrise ist zum zentralen Gegenstand der gesellschaftspolitischen Diskussion in Deutschland geworden. Die herrschende Sichtweise, dass das Virus bei ungebremstem Verlauf zu Hunderttausenden von Toten führen würde, ist unter Druck geraten. Dies hat drei Gründe: Erstens sind im Gegensatz zu anderen Ländern die deutschen Todeszahlen moderat. Zweitens gehen freiwillige und staatliche Maßnahmen der sozialen Distanzierung mit einem starken Einbruch der Wirtschaft einher. Drittens fehlt der Vergleich mit Ländern, die als Maßstab für Deutschland, also als eine Art Kontrollgruppe, angesehen werden und keine Maßnahmen gegen Covid-19 ergriffen haben.Letzteres war Ende März, Anfang April noch anders. Damals war für jeden sichtbar: Wird zu spät reagiert, wie zum Beispiel in Großbritannien, steigt die Zahl der Toten stark an, sind die staatlichen Maßnahmen noch strikter und die ökonomischen Kosten noch exorbitanter. Fast alle waren sich einig, das Kontrafaktische gesehen zu haben: So hätte es bei uns auch ausgesehen, wenn nicht gehandelt worden wäre. Entsprechend hoch war die Zustimmung zur Corona-Politik. Das Kontrafaktische fehltDas Problem ist: Solche Kontrollländer gibt es nicht mehr, da mittlerweile alle Staaten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona ergriffen haben. Dies hat zur Folge, dass die für den Fall einer ungebremsten Entwicklung vorhergesagte Sterblichkeit von Covid-19 nicht beobachtet werden kann. Die Wissenschaft selbst weist darauf hin, dass in einer solchen Situation Restzweifel bleiben, weil der Goldstandard der Wirkungsanalyse – randomisierte kontrollierte Studien – nicht zur Verfügung steht. Vergangenes Jahr haben drei Forscher nicht zuletzt für die Forderung, die Wirkung entwicklungspolitischer Maßnahmen vor allem auf dieser Basis zu testen, den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Denn obwohl sich Wirkungen auch ohne solche Studien wissenschaftlich ermitteln lassen, bleiben die Ergebnisse hinterfragbar, weil das Kontrafaktische fehlt.In dieses Vakuum stößt nun die der Wissenschaft widersprechende Sichtweise, dass Infektions- und Todeszahlen in Deutschland auch ohne staatliche Maßnahmen zurückgegangen wären, eben weil es sich nur um eine Art Grippe handelt. Dabei macht sie sich zunutze, dass viel auf dem Spiel steht, nicht nur, aber eben auch ökonomisch. Es ist so, wie wenn nach einer Chemotherapie niemand mehr an Krebs sterben würde. Auch dann wäre die Idee, dass Krebs gar nicht so gefährlich ist, sehr verlockend, weil die Therapie mit starken Schmerzen und Nebenwirkungen verbunden ist. Dass diese Idee nicht vertreten wird, liegt daran, dass wir jeden Tag das Kontrafaktische erfahren und beobachten können: Menschen sterben, wenn die Therapie zu spät angewendet wird oder gar nicht (mehr) angewandt werden kann.Für Corona ist das aber nicht der Fall. Das Präventionsparadox, wie es der Virologe Christian Drosten nennt, führt also dazu, dass die herrschende Sichtweise gerade wegen der sehr erfolgreichen Behandlung von einer kleinen, aber wachsenden Zahl von Menschen in der öffentlichen Debatte angezweifelt wird. Denn diese Sichtweise kann zunehmend nur noch auf das nicht beobachtbare Kontrafaktische verweisen, um ihre Position zu rechtfertigen. Dagegen können ihre Gegner mit tatsächlichen Zahlen bei Covid-19 und ökonomischer Entwicklung argumentieren. Ganz leicht lässt sich dann die Frage nach der Verhältnismäßigkeit staatlich angeordneter Maßnahmen stellen – vor allem, wenn allein diese Maßnahmen und damit auch die die Politik beratende Wissenschaft für den Einbruch der Wirtschaft verantwortlich gemacht wird.Dass dies falsch ist, zeigt ausgerechnet die Entwicklung in Schweden, das von Corona-Kritikern gerne als Vorbild genannt wird, weil es bei der Corona-Bekämpfung in geringerem Maße auf staatliche Beschränkungen gesetzt hat. Aber trotz liberalerer Politik stürzt auch in Schweden das Bruttoinlandsprodukt ab. Der Unterschied zu Deutschland beläuft sich je nach Prognose zwischen 0,2 und 0,4 Prozentpunkten. Dies zeigt, dass neben den staatlichen Maßnahmen auch freiwillige Einschränkungen sowie Maßnahmen, die von Handelspartnern ergriffen wurden, die ökonomische Entwicklung bestimmen. Sofern die restriktiveren Maßnahmen in Deutschland Leben retten – eine schlichte Übertragung der schwedischen Zahlen würde für Deutschland derzeit statt 8 000 knapp 30 000 Covid-19-Tote bedeuten -, scheinen die ökonomischen Kosten dieser Rettung also nicht unverhältnismäßig hoch, sondern verhältnismäßig gering zu sein. Selbst wenn Schweden bei der Herstellung von Herdenimmunität schon weiter wäre als Deutschland, würde sich daran nichts ändern, wenn in Deutschland – wie von den Kritikern behauptet – die Todeszahlen ohnehin niedrig bleiben.Das schwedische Beispiel zeigt, dass es sich durchaus lohnt, genauer hinzuschauen und weiterhin die Verhältnisse in anderen Ländern zu thematisieren. Aber dennoch: Da viele Menschen von der ökonomischen Krise hart getroffen sind, wird sie allein der Verweis auf Schweden oder ein anderes Land kaum davon abbringen, die Verhältnismäßigkeit der Corona-Politik in Frage zu stellen. Sie wollen eindeutig und erfahrbar bestätigt bekommen, dass es wert ist, die ökonomischen Opfer zu bringen. Dies ist aber nicht möglich, weil es keine Länder mehr gibt, die einen ungebremsten Verlauf der Pandemie zugelassen haben.Was ist in einer solchen Situation zu tun? Drei Punkte sollen genannt werden. Erstens, die herrschende Sichtweise muss sich des kommunikativen Dilemmas bewusst werden, in dem sie steckt, weil die Kontrollgruppe fehlt. Die Wirkungsanalyse zeigt, dass dann Zweifel nicht per se einen Angriff auf die Wissenschaft oder eine minderwertige Meinung darstellen, sondern dem Fehlen des Kontrafaktischen entspringen. Zweitens gilt es, wissenschaftliche Erkenntnisse trotz dieses Dilemmas an Nicht-Wissenschaftler – und das heißt in Bezug auf die Gefährlichkeit des Virus: praktisch an die ganze Bevölkerung, inklusive des Autors – angemessen zu vermitteln. Dazu eignen sich Bilder und Vergleiche, die die Menschen in Situationen versetzen, die sie erfahren und beobachten. Sicher: Bekanntlich hinkt jeder Vergleich, und Bilder und Assoziationen beweisen nichts; sie haben in der wissenschaftlichen Debatte daher zu Recht keinen Platz. Hier geht es aber nicht um die Debatte unter Virologen, Epidemiologen, Ökonomen oder innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft insgesamt, sondern um die Debatte in der Öffentlichkeit. Daher sind solche Argumentationshilfen nicht nur legitim, sondern nützlich, weil sie dem Gegenüber vermitteln, dass er ernst genommen, und nicht allein den Verschwörungstheoretikern überlassen wird. Eher zu stark lockernSchließlich ist aus dem Dilemma drittens die Schlussfolgerung zu ziehen, administrative Maßnahmen im Zweifelsfall eher zu stark zu lockern als zu sehr auf die Bremse zu treten. Denn ein zu starkes Beharren auf Anordnungen zur Vermeidung einer zweiten Infektionswelle ist nicht durchzuhalten, gerade wenn die Infektions- und Todeszahlen niedrig bleiben und kein anderes Land eine zweite Welle erlebt. Werden dann noch die ökonomischen Hiobsbotschaften vor allem der restriktiven Anti-Corona-Politik zugeschrieben, wird die Neigung, dem wissenschaftlichen Rat zu folgen, abnehmen, und zwar nicht nur in der Corona-Politik. Vielmehr werden jene an Boden gewinnen, die ohnehin behaupten, dass “die Elite”, und dazu gehört die Wissenschaft, den “gesunden Menschenverstand” verloren hat. Dies würde wohl zu einer überstürzten großen Lockerung der Maßnahmen führen, die – so verstehe ich die herrschende Sichtweise zu Covid-19 – auf jeden Fall zu vermeiden ist.Adalbert Winkler, Professor für International Finance, Frankfurt School