Was die Sanktionen gegen Russland bewirkt haben
Von Eduard Steiner, MoskauDass Russland und der Westen den Lauf der Welt unterschiedlich interpretieren, ist mittlerweile selbstverständlich. Da ist es nur konsequent, dass auch der Effekt der westlichen Sanktionen nach der Annexion der Krim 2014 und dem russischen Engagement im ostukrainischen Separatistenkonflikt konträr gedeutet wird. Russland sei von ihnen massiv getroffen, ist man von Europa bis in die USA überzeugt. Nichts da, sagte Kremlchef Wladimir Putin im März. Russland habe nicht nur alle Verluste – die er mit etwa 50 Mrd. Dollar bezifferte – kompensiert. Die Sanktionen hätten sich für sein Land sogar als Anreiz für die Entwicklung der Wirtschaft erwiesen: “Pfeif drauf, auf diese Sanktionen.”Nun hat die EU wegen der Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny neue Sanktionen verhängt. Sie richten sich gegen Einzelpersonen und sind mit den Sanktionen seit 2014 nicht vergleichbar. Wirtschaftlich werden sie sich nicht direkt auswirken. Dennoch: “Indirekt ist das alles schlecht für die Wirtschaft”, sagt Paul Bruck, Vizepräsident der Vertretung der EU-Wirtschaft in Moskau (Aebrus), im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.Wie schlimm die bisherigen Sanktionen für die Wirtschaft der EU und Russlands sind, ist indes nicht so eindeutig. Eine Analyse von Bloomberg aus dem Jahr 2018 ergab, dass die europäischen und amerikanischen Sanktionen Russland in den Jahren 2014 bis 2018 um fast 6 % des Bruttoinlandsproduktes, respektive um 200 Mrd. Dollar, gebracht hätten. Fakt ist, dass Russlands Wirtschaftswachstum, 2014 auf ein Plus von 0,7 % abgebremst, nie mehr die Wachstumsraten von vor der Krimkrise erreichte. Die russische Wirtschaft stagniert (siehe Grafik). Die meisten Experten geben allerdings dem Ölpreis die Hauptschuld. Dieser war Mitte 2014 von zuvor 115 Dollar je Barrel auf unter 30 Dollar abgesackt. Im laufenden Jahr pendelte er sich bei 40 Dollar ein.Die Sanktionen kosteten die russische Wirtschaft zwischen 2014 und 2018 jährlich 0,2 Prozentpunkte Wachstum – der Ölpreisverfall 0,65 Prozentpunkte, heißt es in einer Analyse des Internationalen Währungsfonds. Weitere 0,3 Prozentpunkte seien der straffen Geldpolitik der Zentralbank und der staatlichen Ausgabendisziplin zuzuschreiben. Die neue russische Sparsamkeit ist das eine. Das andere sind die Gegensanktionen, die Putin 2014 verhängt hat. “Die negativen Auswirkungen des Importembargos waren für die westliche Wirtschaft schlimmer als die Sanktionen, mit denen der Westen etwa den Export spezieller Technologien oder Double-Use-Güter beschränkte”, sagt Bruck.Die EU-Handelsstatistik zeigt die Dimension. Der bilaterale Warenaustausch mit Russland, der 2012 den Rekordwert von 322 Mrd. Euro erreicht hatte, ist bis 2016 um 43 % auf 183 Mrd. Euro eingebrochen, ehe er wieder langsam nach oben ging und im Vorjahr 232 Mrd. Euro erreichte. Alles in allem lag der EU-Export nach Russland 2019 noch um 25 % unter dem Wert von 2012, bei Agrarprodukten waren es – 38 %. Heute steht Russland für 4,1 % aller EU-Exporte (2012: 6,7 %), die EU steht für 42 % aller russischen Exporte (2012 noch 50 %).Die Handelsströme haben sich also zum Teil verändert oder ganz einfach auch verringert. Und auf dem Agrarsektor hat das tatsächlich zu einem Entwicklungsschub im Inland geführt. Russland ist Exporteur bei Schweine- und Hühnerfleisch geworden, abgesehen von seiner führenden Position auf dem globalen Weizenmarkt. “Wir wurden gezwungen, die Gehirne einzuschalten”, sagte Putin im März-Interview. Allein, der Preis dafür ist hoch, erklärt Alexej Makarkin, Vizepräsident des Moskauer Instituts für Politische Technologien. “Weil die Konkurrenz fehlt, sind die Produkte teurer und oft von geringer Qualität”. Das Volk hat dies wieder einmal mit Geduld hingenommen. Allein, der jahrelange Rückgang der Realeinkommen hinterlässt Spuren. Und zwar zugunsten des Westens. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Center zu Jahresbeginn äußerten 42 % ihre Sympathie gegenüber den USA und 49 % gegenüber der EU, während es Anfang 2018 nur 25 % bzw. 32 % gewesen waren. Auch sprachen sich 67 % dafür aus, den Westen als Partner zu sehen, 11 % gar als Freund. Trotz der medialen Propaganda sei das Verhältnis der Menschen zum Westen auf das Niveau vor der Krimkrise 2014 zurückgekehrt, kommentierte Karina Pipija vom Levada-Center das Ergebnis. “Das Volk hat die außenpolitische Konfrontation satt”, sagt Politologe Makarkin, der dies als Erfolg der Sanktionen wertet.Wirtschaftlich hat der Westen etwas anderes erreicht. Zwar hat sich die russische Wirtschaft gegenüber dem jetzigen Ausmaß der Sanktionen als “weitgehend widerstandsfähig” erwiesen. Aber die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt sich, und der Abstand zu den technologisch führenden Ländern wird größer – zumal die ausländischen Direktinvestitionen signifikant einbrachen. “Und die von Russland propagierte Partnerschaft mit China als Ersatz für die mit dem Westen hat nicht funktioniert”, meint Makarkin.Wirklich von den Sanktionen profitiert aber haben Länder wie die Schweiz oder die Türkei, die sich nicht daran beteiligt haben und von Russland dafür auch belohnt werden. Zuletzt dadurch, dass sie neben Tansania oder Großbritannien vom Einreiseverbot angesichts der Corona-Pandemie ausgenommen wurden. Das habe freilich auch andere Gründe, wie man in Russland scherzt: In die Türkei fahren die Russen in den Urlaub, nach Tansania zum Jagen, und in England und der Schweiz haben sie ihr Geld geparkt.