IM BLICKFELD

Was die Schweizer auch noch sagen wollten - oder nicht

Von Daniel Zulauf, Zürich Börsen-Zeitung, 12.2.2014 Drei Tage nach der denkwürdigen Abstimmung über die "Masseneinwanderungsinitiative" rätselt die Schweiz über die wirtschaftlichen Folgen, welche die beschlossene Begrenzung der Zuwanderung aus den...

Was die Schweizer auch noch sagen wollten - oder nicht

Von Daniel Zulauf, ZürichDrei Tage nach der denkwürdigen Abstimmung über die “Masseneinwanderungsinitiative” rätselt die Schweiz über die wirtschaftlichen Folgen, welche die beschlossene Begrenzung der Zuwanderung aus den EU-Staaten für das Land haben könnte. Klar ist, dass das Land seinen europapolitischen Kurs neu festlegen muss. Die Siegerin der Abstimmung, die konservative Schweizerische Volkspartei (SVP), hat ihren Anspruch auf die Deutungshoheit des am Sonntag zum Ausdruck gebrachten Volkswillens bereits unmissverständlich angemeldet.Die Schweiz wird die Zuwanderung aus der EU spätestens in drei Jahren wieder mit einem Kontingentsystem regeln, wie sie dies bis zum Inkrafttreten der bilateralen Verträge im Jahr 2003 schon getan hatte. Nach Auffassung der Ökonomen der Credit Suisse wird dies nicht ohne negative Folgen auf das Wachstum der Alpenrepublik bleiben. Die Bank, die bislang noch mit einer Ausweitung der Wirtschaftsleistung im laufenden Jahr um 2,0 % und 1,8 % im kommenden Jahr gerechnet hatte, erwartet in der Übergangsphase bis zur Einführung der Zuwanderungsbegrenzung einen negativen Wachstumseffekt von 0,3 Prozentpunkten beim Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Unternehmen würden ihre Entscheidungen über künftige Investitionen und Personaleinstellungen mindestens so lange auf die lange Bank schieben, bis sie ausreichend Klarheit über die Konsequenzen des Urnengangs auf die Handelsbeziehungen der Schweiz zur EU haben, schreiben die Credit-SuisseÖkonomen in einer ersten Analyse.Das Beschäftigungswachstum werde sich deutlich verlangsamen. Die Ökonomen erwarten einen Rückgang der Nettozuwanderung von derzeit rund 80 000 Personen im Jahr auf circa 50 000 Personen, noch bevor die Kontingente überhaupt in Kraft getreten sind. Die Konjunkturauguren der UBS zeigen sich deutlich weniger pessimistisch und rechnen mit einer weiteren Beschleunigung des Wirtschaftswachstums bis ins nächste Jahr hinein. Nach den Prognosen der UBS wird das BIP der Schweiz 2014 um 2,1 % und 2015 sogar um 2,4 % zunehmen. Das Land tappt im DunkelnAllein schon die unterschiedlichen Kurzfristprognosen der beiden Großbanken zeigen, wie sehr das Land seit dem vergangenen Wochenende im Dunkeln tappt. Noch viel weniger klar sind die potenziellen Langzeitfolgen des Plebiszits. Die Gewerkschaften zeigten sich gestern in einer Stellungnahme “tief besorgt” und betonen die “großen Risiken” der Abstimmung. Es drohe der Abbau “Zehntausender” exportorientierter Arbeitsplätze, wenn die bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz aufgekündigt würden. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass die Löhne unter dem Kontingentsystem zusätzlich unter Druck gerieten. Die Gewerkschaften befürchten, der Bund könnte die bestehenden Kontrollen zur Verhinderung von Dumpinglöhnen auf Baustellen und in Betriebsstätten abschaffen, wenn das Kontingentsystem einmal in Kraft getreten ist.Derlei Befürchtungen sind offenbar nicht ganz unbegründet. Für George Sheldon, Arbeitsökonom an der Universität Basel, sind Kontingente jedenfalls ein wirkungsloses Instrument zur Steuerung der Zuwanderung. “Die Zuwanderung stieg bereits seit Mitte der 1990er Jahre, also unter dem Regime der Kontingente”, sagte Sheldon der Schweizerischen Depeschenagentur. Die Zuwanderung habe ihren Höhepunkt bereits 2002 erreicht – im Jahr des Inkrafttretens des Freizügigkeitsabkommens. Danach sei sie auf einem hohen Niveau geblieben. “Wenn man allein die Grafiken betrachtet, könnte man gar behaupten, dass die Personenfreizügigkeit die Zuwanderung gebremst hat”, sagte er. “Ich frage mich, warum man sich solche Probleme mit der EU einhandelt, wenn man doch genau weiß, dass Kontingente die Zuwanderung nicht steuern.”Mit dieser Frage deutet Sheldon an, was die Schweiz in den nächsten Jahren politisch umtreiben wird. Christoph Blocher, der ehemalige Justizminister und amtierende Vizepräsident der SVP, der die Kampagne für die Masseneinwanderungsinitiative zum großen Teil aus seiner privaten Tasche finanzierte, hat den Anspruch seiner Partei auf die Deutungshoheit des Volksentscheides bereits klar angemeldet. “Wir sind nicht Mitglied der EU und wollen es nie sein”, erklärte der 73-Jährige gestern in einem Interview. Blocher kämpfte 1992 an vorderster Front gegen den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und mit seinem Sieg begann der Aufstieg der SVP zur wählerstärksten Partei der Schweiz. Trotz des damaligen Volksentscheids schickte die Schweizer Regierung ein Beitrittsgesuch nach Brüssel, das sie bis heute nicht zurückgezogen hat. “Die Verantwortlichen haben die EU bis heute im Glauben gelassen, dass die Schweiz ihr zumindest beitreten will. Deshalb haben wir jetzt einen solchen Salat”, betonte Blocher. Generelle SchlüsseFür die SVP und ihre Sympathisanten ist das Ja der Schweiz gegen die Masseneinwanderung also viel mehr als nur ein Votum über die Zuwanderung. Die konservativen Kreise werten das Ergebnis vielmehr als generelle Willensbekundung eines Landes, das auf die Wahrung seiner Selbstbestimmung und seines politischen Systems mit seinen ausgebauten direktdemokratischen Volksrechten beharrt.Wie die Regierung den jüngsten Volksauftrag interpretiert, wird sich wohl erst im Laufe des Jahres klären. Am Tag der Abstimmung versprach der siebenköpfige Exekutivrat, der Bundesrat, vorerst nur, die Initiative rasch umzusetzen und die EU-Politik zu überdenken.Klar ist indessen, dass die Regierung in Bern mit ihrer bisherigen Strategie vorerst auf Grund gelaufen ist. Schon in den nächsten Wochen hätten die Verhandlungen über institutionelle Rahmenverträge zur dynamischen Übernahme von EU-Recht in der Schweiz beginnen sollen. Diese Gespräche sind nun obsolet geworden. Wie die Schweiz ihr Verhältnis zur EU und damit zu ihrer wichtigsten Handelspartnerin aber langfristig entwickeln soll, weiß niemand.Vermutlich wird die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative eher früher als später eine neue Diskussion über die Vor- und Nachteile eines Beitritts der Schweiz zur EU entfachen. In einer solchen Diskussion werden die politischen Parteien Farbe bekennen müssen und sich, anders als in den vergangen 20 Jahren, klar für die eine oder die andere Seite entscheiden müssen. Von den großen Parteien haben das bislang nur die SVP und (etwas weniger konsequent) auch die EU-freundlichen Sozialdemokraten getan.Irgendwann werden die Schweizerinnen und Schweizer also nochmals gefragt werden müssen, was sie am 9. Februar wirklich sagen wollten – und was nicht.