GastbeitragTarget-Forderungen

Was hinter der Strafanzeige gegen die Bundesbank-Führung steckt

Die Bilanzierung der Target-Forderungen ist umstritten. Eine Klage läuft gegen Mitglieder des Bundesbank-Direktoriums. Was steckt dahinter?

Was hinter der Strafanzeige gegen die Bundesbank-Führung steckt

Gastbeitrag

Was hinter der Strafanzeige gegen die Bundesbank-Führung steckt

Mit der Begründung einer fortgesetzten Bilanzfälschung in erheblichem Umfang hat der Investor Hans Albrecht, Gründer des Private-Equity-Fonds Nordwind Capital, eine gerichtliche Klärung der Werthaltigkeit der Target-Forderungen der Bundesbank angestrengt. Diese stehen mit 1.269 Mrd. Euro als Target-Nettoforderung in der Abschlussbilanz 2022 – entsprechend ca. 44% ihres Vermögens und mit Testat der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Baker Tilly. Im Widerspruch hierzu scheint die Aussage des derzeitigen EZB-Präsidiumsmitglieds Isabel Schnabel, die bei einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages im Juni 2019 äußerte: „Der Zeitwert der auf die Target-Forderungen gegründeten zukünftigen Erträge ist null.“

"Verpflichtende" Bilanzierung

Target ist ein transeuropäisches Zahlungssystem, bei dem Zahlungen in Echtzeit über die jeweiligen Euro-Notenbanken geleistet werden. Kommt es bei grenzüberschreitenden Geschäften zu einer Zahlung auf das Kundenkonto einer deutschen Geschäftsbank, so muss die Bundesbank das dafür benötigte Zentralbankgeld bereitstellen. Im Gegenzug erhält die Bundesbank eine Target-Forderung gegenüber der EZB. Anlass geben etwa deutsche Industriegüterexporte oder der Verkauf einer italienischen Anleihe über den Bankenplatz Frankfurt, die die italienische Zentralbank im Rahmen von Ankaufprogrammen erwirbt. Zu Zeiten der Euro-Krisen (2010, 2012, 2015) führte auch eine Verlagerung von Bargeld und Bankeinlagen (Kapitalflucht) zu einem Anstieg des deutschen Saldos.

Doch welchen Wert haben die Target-Forderungen auf der Aktivseite der Bilanz? Gemäß einer EZB-Leitlinie sind Target-Forderungen und -Verbindlichkeiten „verpflichtend“ zum Nennwert zu bilanzieren. Eine Verzinsung findet zum Hauptrefinanzierungssatz statt, welcher derzeit 4,5% beträgt. Jedoch ist für eine Bewertung auch die Verzinsung der Gegenposition auf der Passivseite der Bilanz zu berücksichtigen. Im Falle einer Target-Forderung wäre das in der Regel der Zinssatz auf Einlagen der Geschäftsbanken (Einlagefazilitäten), die diese für die Abwicklung des Kundengeschäftes bekommen.

Defizite werden belohnt

Unter Vernachlässigung der zinslosen Mindestreserve erhalten sie auf ihre Guthaben aktuell risikolos 4%. Die Effektivverzinsung beträgt demnach 0,5%. Seit Einführung des Euro schwankt sie zwischen 0,25 und 1,0%.

Da die Target-Salden als Resultat der Erfüllung währungspolitischer Aufgaben eingeordnet werden, unterliegen entsprechende Zinsaufwendungen und -erträge dem Zinspooling der monetären Einkünfte. Von den vergemeinschafteten Nettoerträgen bekommt die Bundesbank anteilig 26,1% zurück, so dass aktuell lediglich 0,13% bei der Bundesbank verbleiben – ein nicht inflationsgeschützter nahezu Nullzins-Kredit, dazu unbesichert und ohne Fälligkeitstermin. Finanzmathematisch entspricht das einem Vermögenswert gegen null.

Die Pointe: Länder mit Target-Defiziten (in Mrd. Euro: Italien –684; Spanien –502; Griechenland –112) erhalten unter Umständen sogar eine positive Nettoverzinsung ihrer Target-Notenbankkredite – aufgrund relativ hoher Risikoaufschläge einheimischer Staatsanleihen, die von ihren Notenbanken im Rahmen der Anleihekaufprogramme und oft mit Target-Verbindlichkeiten gegenüber der Bundesbank erworben wurden. Liquiditätsprobleme werden dadurch noch belohnt. Kritiker der Wert-Diskussion immunisieren die Target-Forderungen gegen das Argument der Wertlosigkeit, indem sie diese lediglich als Verrechnungsposten oder formale Gegenbuchungen im System der doppelten Buchführung interpretieren. Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem ESM-Urteil fest: „Sie stellen Forderungen oder Verbindlichkeiten gegenüber der Europäischen Zentralbank dar.“ Zudem ist es durchaus möglich, dass sich die nicht terminierten Forderungen durch entsprechende Gegengeschäfte kurzfristig reduzieren oder gar auflösen, was eine prinzipielle Werthaltigkeit somit nicht ausschließt.

Unverkennbare Ausfallrisiken

So kam es zwischen 2012 und 2014 zu einer Verringerung der deutschen Target-Forderungen um 41% und aktuell fand in Jahresfrist eine Minderung um 17% statt. Dennoch sind die Ausfallrisiken nicht zu verkennen. Im Falle des Euro-Austritts eines Defizit-Landes dürften dessen Target-Kredite für das Eurosystem uneinbringbar sein. Bei einem Zusammenbruch der Währungsunion oder einem Austritt Deutschlands würden wohl die gesamten deutschen Target-Forderungen verlorengehen – ein bedeutsamer Anteil des deutschen Nettoauslandsvermögens, in das sie als Auslandsforderungen der Bundesbank einfließen. Die Nichtberücksichtigung dieser Risiken monierte bereits der Bundesrechnungshof in seinem Bericht an den Haushaltsausschuss vom 17. März 2023.

Wie könnte eine Lösung des Wert-Dilemmas aussehen? Zum einen könnte die Bundesbank von ihrer Bilanzierungspraxis Abstand nehmen, bei der Risikobetrachtung die Target-Forderungen unberücksichtigt zu lassen. Zwar erlaubt ein EZB-Beschluss die Bewertung zum Nennwert – ganz im Gegensatz zu den Vorgaben des Handelsgesetzbuches, das aus Gründen des Gläubigerschutzes eine vorsichtige Bewertung (kein Ausweis nicht realisierter Gewinne, Berücksichtigung aller Verluste und vorhersehbarer Risiken, § 252 HGB) vorgibt. Gemäß § 26 Bundesbankgesetz könnte die Bundesbank allerdings Rückstellungen für diese Wagnisse bilden.

Wie private Wettanbieter

Einen Anhaltspunkt könnten Wahrscheinlichkeiten eines Austritts von Euro-Mitgliedern liefern, wie sie private Wettanbieter regelmäßig ermitteln. Zum anderen könnte der EZB-Rat mit einfacher Mehrheit die Target2-Leitlinie dahingehend ändern, dass die Target-Salden auf einen zahlungsabwicklungsbedingten Normalzustand – inkl. Inflationsanpassung – begrenzt werden. Bspw. überschritt Deutschland die 100-Mrd.-Grenze als einziges Land erstmalig im Februar 2008. Darüber hinausgehende Salden wären periodisch auszugleichen oder mit werthaltigen Besicherungen zu versehen.

Beide Varianten dürften politisch aber kaum durchsetzbar sein, zumal man negative Außenwirkungen durch das Öffentlichwerden von Risikoanalysen zu Euro-Austritten befürchtet. Ob nun die Strafanzeige verhindern kann, dass eines Tages die normative Kraft des Faktischen über die Werthaltigkeit der Target-Forderungen entscheiden muss, bleibt indes abzuwarten.

Dirk Meyer

Professor für Volkswirtschaftslehre an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Arne Hansen

Promovierter Volkswirt am Lehrstuhl von
Dirk Meyer