Weidmann und die Wunschlisten

Von Stefan Reccius, Frankfurt Börsen-Zeitung, 14.11.2020 Zum Abschluss gibt Jens Weidmann den Versöhner: "Sie haben geholfen, meinen Blick auf die verschiedenen Themen zu schärfen", sagt der Chef der Bundesbank in die Kamera - und bittet...

Weidmann und die Wunschlisten

Von Stefan Reccius, FrankfurtZum Abschluss gibt Jens Weidmann den Versöhner: “Sie haben geholfen, meinen Blick auf die verschiedenen Themen zu schärfen”, sagt der Chef der Bundesbank in die Kamera – und bittet wohlweislich sogleich um Verständnis: “Nicht alle Anliegen werden sich in den Beschlüssen des EZB-Rats wiederfinden können.”Fast drei Stunden hat Weidmann Vertretern von einem Dutzend Verbänden zugehört, um ihre Sicht auf die großen Fragen der Geldpolitik zu erfahren. Die meisten haben klare Wünsche formuliert für die künftige Strategie der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Währungshüter, so viel ist nun klar, werden sie unmöglich alle erfüllen können.Für Diskussionen sorgte etwa eine Reform des Inflationsziels von “nahe, aber unter 2 %”. Es geht um die Frage, ob die EZB dem Vorbild der Fed folgen und Abweichungen nach oben tolerieren sollte, um die jahrelang zu geringe Inflation auszugleichen. EZB-Ratsmitglied Olli Rehn deutete an, dass die Beratungen dazu vorankommen dürften: “In der nächsten Woche werden uns auf das Preisstabilitätsziel konzentrieren, das der harte Kern der Geldpolitik ist”, sagte der Chef der finnischen Zentralbank laut der Agentur Reuters.Bei der Veranstaltung der Bundesbank deutete sich Konsens unter den Verbänden am ehesten bei der Diagnose der wirtschaftlichen Perspektive an: Demnach ist – der sehr expansiven Geldpolitik zum Trotz – eine Deflationsspirale, also eine längere Phase mit sinkenden Preisen und mauem Wachstum, auf absehbare Zeit eher zu befürchten als eine kräftige Geldentwertung. Reiner Holznagel, Präsident des Steuerzahlerbundes, gab gleichwohl zu bedenken, dass bei älteren Generationen die Hyperinflation der Weimarer Zeit durchaus im Gedächtnis sei: “Viele Menschen haben einfach Angst davor, auch wenn die Inflationsrate diese Angst nicht begründet.”Nur: Wie lebensnah ist überhaupt der einschlägige Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI), der den Entscheidungen des EZB-Rats zugrunde liegt? Steigen die Verbraucherpreise nicht de facto stärker als offiziell ausgewiesen? Das scheint, wie Umfragen andeuten, das verbreitete Gefühl in der Bevölkerung zu sein. “Steigende Mietkosten”, argumentierte Verdi-Chef Frank Werneke, seien “nicht ausreichend widergespiegelt”. Gerade in Ballungsräumen gingen “immer höhere Teile des verfügbaren Einkommens für Miete” drauf. Kai Warnecke, Chef von Haus & Grund, widersprach und entgegnete: Die Betriebskosten stiegen “weit stärker als die Mieten. Das setzt auch die Vermieter unter Druck.” Einig waren sich beide darin, selbst genutztes Wohneigentum künftig im HVPI zu berücksichtigen. Holznagel stimmte ein: “Die Immobilienpreise sind in den letzten Jahren extrem angestiegen, auch durch die Niedrigzinspolitik der EZB.” Weidmann verwies auf methodische Probleme bei der Abgrenzung zu Vermögenspreisen, deutete aber Lösungen an.Besonders kontrovers, aber zugleich sachlich fundiert und tiefgründig ging es beim Thema Klimawandel zu. Mauricio Vargas, Wirtschafts- und Finanzexperte von Greenpeace, nahm die Notenbanker einmal mehr in die Pflicht. Die bekannten Vorbehalte insbesondere innerhalb der Bundesbank gegen eine explizit grüne Geldpolitik samt Bevorzugung bestimmter Unternehmen bei Anleihekäufen konterte Vargas mit dem Hinweis, er teile damit verbundene Sorgen über eine schwindende Unabhängigkeit der Notenbanken. Angesichts der “historischen Herausforderung” sei aber auch die Bundesbank gefordert, stärker an der “Transformation zu einer ökosozialen Marktwirtschaft” mitzuwirken.Ausgerechnet ein Vertreter einer anderen Umweltschutzorganisation sprang Weidmann zur Seite. BUND-Ökonom Rudi Kurz wandte ein: “Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Notenbank löst dieses Problem auch noch mit. Sonst werden Politiker bequem.” Fokussiere sich die Notenbank hingegen erfolgreich darauf, Preise und Finanzsystem zu stabilisieren, “halten Sie uns zwei Krisenherde vom Hals, die von den tatsächlich Menschheitskrisen ablenken: Klimawandel und Verlust der Biodiversität”. Verdi-Vertreter Dierk Hirschel hielt das freilich nicht davon ab, noch einen draufzusetzen und “unabhängig vom Stand der EU-Verträge” ein hohes Beschäftigungsniveau als “gleichberechtigtes Ziel” für die Geldpolitik zu fordern.Fazit: Die Einbindung der Öffentlichkeit erweist sich als schmaler Grat und weckt auch unrealistische Begehren. Die Notenbanker haben es sich aber nun einmal zum Auftrag gemacht, anders als bei der Strategieüberprüfung vor 17 Jahren allen Teilen der Gesellschaft Gehör zu schenken. Ein Ergebnis steht somit schon fest: Ihr Selbstverständnis hat sich offenbar fundamental geändert.——Drei Stunden lang hört der Bundesbankchef den Verbänden zu – und vernimmt mitunter stark gegensätzliche Interessen.——