LEITARTIKEL

Weißes Papier

Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen sich heute in Valletta auf Malta zu einem informellen Gipfel, auf dem zunächst ein Flüchtlingspakt mit Libyen festgezurrt werden soll. Ziel ist es, die Migration über die zentrale Mittelmeerroute so weit...

Weißes Papier

Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen sich heute in Valletta auf Malta zu einem informellen Gipfel, auf dem zunächst ein Flüchtlingspakt mit Libyen festgezurrt werden soll. Ziel ist es, die Migration über die zentrale Mittelmeerroute so weit wie möglich zu erschweren. Am Nachmittag, wenn Theresa May wieder abgereist ist, geht es dann ans Eingemachte: Nichts weniger als die Zukunft der EU soll diskutiert werden. Wie geht es weiter mit der EU nach Brexit und Trump? Gibt es noch Visionen für weitere Integrationsschritte? Wie können die internen Fliehkräfte wieder eingefangen werden?Das Ergebnis der Beratungen ist offen. Sicher ist nur, dass zum einen die Bestandsaufnahme deutlich leichter fallen wird als das Finden von Lösungen und dass zum anderen bis zum 25. März eine neue Strategie auf dem Tisch liegen soll. Denn dann wird der 60. Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert, die heute als Gründungsurkunde der EU gelten. Mit einer Deklaration sollen die Europäer dann auf die Zukunft eingeschworen werden. Die EU-Kommission will zum runden Geburtstag zugleich ein Weißbuch mit konkreten Weichenstellungen vorlegen. Nicht nur für die Wirtschafts- und Währungsunion, wie ursprünglich geplant, sondern auch für alle anderen Politikbereiche der EU sollen hier Optionen für die kommenden Jahre aufgezeigt werden.Die Bedeutung einer solchen Standortbestimmung ist unbestritten – auch ganz unabhängig vom jüngsten Machtwechsel in Washington. Die Welt ist heute eine andere als vor zehn Jahren, als zum 50. Jubiläum der Verträge von Rom noch niemand ernsthaft den europäischen Weg in Frage gestellt hat und unter anderem die deutschen Topmanager einvernehmlich und wie selbstverständlich einer weiteren Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft das Wort geredet haben. Heute muss die EU dagegen Antworten auf vier Herausforderungen finden, die es so 2007 noch nicht gegeben hat: Erstens haben die politischen Instabilitäten in den Nachbarregionen massiv zugenommen. Zu erinnern sei hier nur an den Krieg in Syrien, die neue Aggressivität in der russischen Außenpolitik einschließlich der Annexion der Krim, die Kämpfe in der Ostukraine und natürlich an die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Damit einhergehend haben zweitens die Flüchtlingsströme in Richtung EU so stark zugenommen, dass diese in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Wer hätte sich vor zehn Jahren vorstellen können, dass Errungenschaften wie das Schengener Abkommen jemals wieder in Frage gestellt würden? Drittens haben der wieder erstarkte Nationalismus und der sich ausbreitende Populismus innerhalb der EU-Staaten gefährliche Sprengsätze gelegt, die bereits zum Brexit-Votum in Großbritannien geführt haben. Und schließlich hat auch die Wirtschafts- und Finanzkrise viel Vertrauen in die Gestaltungskraft der EU und in die gemeinsame Währung zerstört.Die Deklaration von Rom und das geplante Weißbuch bestehen heute noch aus vielen Seiten weißes Papier, die noch gefüllt werden müssen. Allenfalls Ansätze von Antworten auf die Herausforderungen und die Vertrauenskrise in der EU gibt es schon. Diese haben vor allem mit mehr Sicherheit zu tun – also dem besseren Schutz der EU-Außengrenzen, wozu unter anderem die heute diskutierte Abriegelung von Libyen beitragen soll, dem Auf- und Ausbau eigener Verteidigungsstrukturen außerhalb der Nato, der Stärkung der inneren Sicherheit (auch der digitalen). Und sie haben mit einer Stärkung der sozialpolitischen Agenda der EU zu tun.Doch dies kann nicht alles gewesen sein. Denn die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, dass die Vorstellungen über den Grad der weiteren Vergemeinschaftung in Europa und das Ausmaß an nötiger Solidarität in den einzelnen Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich ausgeprägt sind. Wichtig wäre deshalb im Zuge des anstehenden runden Geburtstages eine Erneuerung der gemeinsamen Basis – ein ehrliches Bekenntnis zu den Werten und der grundsätzlichen Ausrichtung der Union. Im besten Fall würden auch die EU-Verträge noch einmal angepasst. Dies scheint im augenblicklichen politischen Umfeld aber utopisch.EU-Ratspräsident Donald Tusk hat vor dem heutigen Gipfel ein “Zeichen der Einigkeit” von den Regierungschefs gefordert. Sollte ein solches Zeichen aus Valletta tatsächlich gesendet werden, wäre vor dem Hintergrund der Giftpfeile aus Washington und der anstehenden Wahlen in den Niederlanden und Frankreich schon viel gewonnen.——–Von Andreas HeitkerDie Welt ist heute eine andere als vor zehn Jahren. Die EU sucht noch Antworten auf die Herausforderungen. Mit mehr Einigkeit wäre dabei schon viel gewonnen.——-