Wer lügt nicht?
Woran erkennt man, dass Politiker lügen? Einem in der englischsprachigen Welt beliebten Witz zufolge daran, dass sie ihre Lippen bewegen. Erwachsene wissen eigentlich, dass man im Wahlkampf abgegebene Versprechen nicht auf die Goldwaage legen sollte. Um Stimmen zu gewinnen, wird von allen Seiten nach Herzenslust übertrieben und zugespitzt. Es handelt sich um Werbung, nicht um die möglichst genaue Wiedergabe von Fakten. Marcus Ball, der Gründer von “Brexit Justice”, hat es dennoch geschafft, Boris Johnson wegen angeblichen Amtsmissbrauchs vor Gericht zu zerren. Er habe die Öffentlichkeit sowohl vor dem EU-Referendum 2016 als auch im Wahlkampf 2017 darüber in die Irre geführt, wie viel Geld die Mitgliedschaft in der Staatengemeinschaft Großbritannien kostet. Johnsons Statements seien “falsch, irreführend und ein Missbrauch des Vertrauens der Öffentlichkeit” gewesen.Es geht um den berühmten roten Tourbus von “Vote Leave”, auf dem von 350 Mill. Pfund pro Woche die Rede war, mit denen man das chronisch in Geldnöten steckende öffentliche Gesundheitssystem NHS finanzieren könnte. Wie groß die Empörung der Brexit-Gegner über diesen Slogan drei Jahre danach noch ist, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass Ball per Crowdfunding 200 000 Pfund für das Verfahren gegen den ehemaligen Londoner Bürgermeister einsammeln konnte. Tony Blairs ehemaliger Spindoktor Alastair Campbell, der “Stronger In” beriet, sprach von einer “offenen Lüge”. Er könne sich nicht an Wahlkämpfe erinnern, in denen man seine Kampagne auf einer Lüge aufbaue und wenn sie aufgedeckt werde einfach weitermache, so wie es Johnson & Co getan hätten. Komisch nur, dass seinem früheren Arbeitgeber der Spitzname “Bliar” anhängt (Liar = Lügner), seitdem er Großbritannien mit der Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, in einen Krieg führte.Aber kurz zu den 350 Mill. Pfund: Dem ONS zufolge zahlte das Vereinigte Königreich 19 Mrd. Pfund brutto in den EU-Haushalt. Auf diese Zahl bezog sich “Vote Leave”. Warum es am Ende nur 350 Mill. Pfund und nicht die sich rein rechnerisch ergebenden 365 Mill. Pfund wurden, kann wahrscheinlich nur der Chef der Kampagne, Dominic Cummings, beantworten. Abzüglich der zuerst von Margaret Thatcher ausgehandelten Rabatte waren es jährlich 15 Mrd. Pfund brutto. Unter Berücksichtigung der Gelder, die von der Europäischen Kommission in Großbritannien ausgegeben werden – von der Subventionierung der Landwirte bis hin zu unsinnigen Bauprojekten in strukturschwachen Regionen -, kam man auf einen Nettowert von 11 Mrd. Pfund. Das war pro Woche deutlich weniger als der von “Vote Leave” genannte Wert. Allerdings spricht man für gewöhnlich, wenn man sich über Gehälter unterhält, auch vom Brutto- und nicht vom Nettowert. Die 350 Mill. Pfund hatten also eine reale Grundlage, und ihre Verwendung war nicht völlig willkürlich. Natürlich spiegelte die Zahl die Kosten der Mitgliedschaft nicht angemessen wider. Allerdings gingen auch die finsteren Prognosen der Brexit-Gegner zur Wirtschaftsentwicklung, die sich dabei auf IWF, OECD und Schatzamt stützen konnten, an der Wirklichkeit vorbei. Eine Rede David Camerons, in der er die Gefahr eines Dritten Weltkrieges im Falle eines britischen EU-Austritts heraufbeschwor, entsprach ebenso wenig der realen Sicherheitslage. Beide Seiten nutzten die ganze Klaviatur der politischen Propaganda. Nichts anderes war zu erwarten gewesen.Warum also nun die Klage? Ball hält sein Vorgehen für einen Beitrag dazu, die Spaltung des Landes zu überwinden, deren Ursprung er auf das Fehlverhalten von Politikern zurückführt. “Wir haben eine Krise des öffentlichen Vertrauens”, schrieb er in einem Gastbeitrag für die Londoner Gratiszeitung “Metro”. Die Strafverfolgung von Politikern sei der einzige Weg, der aus dem Brexit-Chaos herausführe. Tatsächlich nutzt sie nur den politischen Gegnern derjenigen, die verklagt werden – im aktuellen Fall den Rivalen Johnsons im Kampf um die Führung der Tories.Der eingangs erwähnte Politikerwitz wird übrigens in gleicher Form auch über Anwälte erzählt. Der Unterschied zwischen Politikern und Juristen besteht darin, dass man Erstere wenigstens abwählen kann.