Wer muss, der muss
Wer regelmäßig in der französischen Hauptstadt unterwegs ist, kennt vielleicht den kleinen Ratgeber “Oè faire pipi à Paris”, der einem den Weg zur nächstgelegenen Bedürfnisanstalt weist. Im Zentrum Londons ging es vor der Pandemie noch ohne. Anders als in vielen britischen Gemeinden, in denen schon lange an den WC-Anlagen gespart wird, gab es im Herzen der Metropole noch ausreichend öffentliche Toiletten. Vielerorts durfte man sich sogar mit warmem Wasser die Hände waschen – ein Zeichen von Zivilisation, Klimawandel hin oder her. Auch mit Seife wurde nicht gegeizt. Im St. James’s Park gab sich die Welt die Klinke in die Hand. Doch sorgte der Lockdown für die Schließung vieler Örtlichkeiten. Den aktuellsten Daten zufolge gab es im Vereinigten Königreich 11 000 davon, knapp 4 500 davon wurden von Lokalverwaltungen betrieben.In den Rathäusern fügt man sich nur zögerlich der Realität, dass die Bürger nicht für den Rest ihres Lebens im Hausarrest verbringen werden. Dabei bringt ihr Hunger nach Sonne unerwartete Einnahmen: Den Ordnungskräften der Labour-Hochburg Hackney gingen angeblich die Strafmandate aus, als sie sich ein Wochenende lang Outdoor-Pinklern und Müllsündern in der Grünfläche London Fields widmeten. Mittlerweile ist das öffentliche WC dort zwar wieder offen, bei Sonnenschein bilden sich jedoch endlose Schlangen. Hauseingänge und Gebüsche verbreiten einen strengen Geruch.Vor Corona bestand noch die Möglichkeit, bei Costa Coffee oder in einem Wetherspoon-Pub sein Geschäft zu verrichten – auch ohne etwas zu konsumieren. Doch alle Gaststätten wurden geschlossen. Da hilft auch “London Loo Codes” nicht mehr. Der anonyme Twitter-Account hatte sich in der Vergangenheit durch die Verbreitung von Zugangscodes zu den Toiletten von Kaffeehausketten wie Pret A Manger und Starbucks einen Namen gemacht. Doch Cafés dürfen nur noch “Coffee to go” anbieten, Pubs ein Bier im Stehen. Und wenn sie ihre Pforten wieder öffnen, werden sie, wegen der dann von ihnen erwarteten Extremreinigung, wohl peinlich genau darauf achten, wer ihre Klos benutzt. Nicht nur für Berufskraftfahrer und Mitarbeiter von Lieferdiensten ist das eine Katastrophe.Bei der schrittweisen Wiedereröffnung des Einzelhandels bleiben die sanitären Anlagen vieler Geschäfte auf Anordnung der Regierung geschlossen. Der wahnhafte Umgang mit der Infektionsgefahr dürfte dem Umsatz nicht förderlich sein. Denn wer sein Geschäft nicht im Stehen verrichten kann, ist in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, solange nur die Kassen geöffnet werden dürfen.Das Internet verschafft Erleichterung. Zwei Brüder aus Hammersmith haben auf der Website Lockdownloo.com unter dem Künstlernamen Sir Caughtshort damit begonnen, Informationen über die noch zugänglichen Bedürfnisanstalten Britanniens zusammenzutragen, von den Öffnungszeiten bis zum Zustand und der Sauberkeit. Das soll den Menschen wieder die nötige Zuversicht geben, vor die Tür zu gehen. Hier erfährt man, wo die Seife knapp ist und wo man nur hingehen sollte, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Die Daten sind wesentlich aktueller als das, was schon seit einiger Zeit unter “The Great British Public Toilet Map” im Netz zur Verfügung stand. In Kombination mit Takeawaypints.co.uk macht das Online-Angebot den Alltag planbarer.Raymond Martin, der Geschäftsführer der British Toilet Association, forderte die Regierung auf, sich einmal ernsthaft über Regulierung und Finanzierung sanitärer Anlagen Gedanken zu machen. Schließlich gehe es um ein menschliches Bedürfnis und ein Menschenrecht. Eine koordinierte Herangehensweise an das Problem gibt es nicht. Die Regierung schiebt das Problem kurzerhand auf die Lokalverwaltungen ab, die formell dafür zuständig sind. Ohnehin solle man den Besuch öffentlicher Toiletten nach Möglichkeit vermeiden. Die Local Government Association riet den Verbrauchern, nicht davon auszugehen, dass Toiletten geöffnet sind, und Ausflüge und Aktivitäten im Freien entsprechend zu planen. Für viele Menschen heißt das, dass für sie trotz Lockerung der Ausgangsbeschränkungen so schnell keine Normalität einkehren wird.