IM INTERVIEW: PATRICK MINFORD, ECONOMISTS FOR BREXIT

"Wir bekommen Kanada Plus"

Der ehemalige Wirtschaftsweise über irische Politiker, Referenden und politischen Theaterdonner

"Wir bekommen Kanada Plus"

Der ehemalige britische Wirtschaftsweise Patrick Minford geht davon aus, dass die Verhandlungen zwischen London und Brüssel mit einer Einigung enden werden. Von den jüngsten Äußerungen des EU-Verhandlungsführers Michel Barnier in Irland lässt er sich dabei nicht beeindrucken.- Professor Minford, könnte die Übergangsphase nach dem formalen EU-Austrittsdatum viel länger dauern als derzeit absehbar?Nein, die Übergangsphase ist nur dazu da, die Interessengruppen zu beruhigen, die ihre Geschäfte derzeit auf eine bestimmte Weise machen und Zeit brauchen, um sich anzupassen. Ende 2020 war so ziemlich die kürzeste Option. Für die Übergangsphase gibt es zwei Gründe.- Welche sind das?Zum einen will man die britische Industrie beruhigen, zum anderen verschafft man der EU-Kommission Einnahmen. Sie wäre sonst technisch zahlungsunfähig, denn sie kann sich kein Geld an den Märkten beschaffen. Das ist schon außerordentlich: eine Regierung, die keine Anleihen begeben darf. Über die zwei Jahre hinweg hätten 28 Mrd. gefehlt, und es hätte keine Möglichkeit gegeben, sie sich zu leihen. Die Kommission wollte diesen Deal offenkundig zuerst unter Dach und Fach bringen. Aber jetzt sollte man sich besser um die Handelsbeziehungen kümmern. Und es wird ziemlich schnell zu einem Handelsabkommen kommen, denke ich. Wir bekommen Kanada Plus.- Was würde aus der ungelösten Irlandfrage?Haben sich irische Politiker schon einmal nicht völlig absurd verhalten? Diese Leute machen eine Menge Ärger, weil sie den Brexit nicht wollen. Die EU-Kommission hat sich ihrer bedient, weil sie das nützlich fand. Aber am Ende muss ein Handelsabkommen stehen. Es gibt eine ganze Menge Lösungsansätze für die Grenze.- Und die wären?Es gibt Technologien dafür. Zudem könnte Großbritannien anfallende Zölle vereinnahmen und an die EU weitergeben. Das wurde in Brüssel als Fantasterei abgetan, ist aber durchaus machbar.- Dafür gibt es jetzt anscheinend offenere Ohren . . .Derzeit kommt ein Großteil der irischen Importe durch Großbritannien auf die Insel, im Grunde verläuft die gesamte Beschaffungskette durch das Vereinigte Königreich. Wenn sich darunter Waren aus Nicht-EU-Ländern befinden, werden derzeit schon die Zölle in Großbritannien gezahlt und an die EU weitergereicht. Das ist doch überhaupt kein Problem. Manche meiner Freunde, die sich für den Brexit eingesetzt haben, sind darüber sehr aufgebracht, weil sie fürchten, dass das alles sehr bürokratisch wird. – Ist das nicht so?Es ist trivial. Moderne Zollabwicklungssysteme sind computerisiert. Wir haben Computer, von denen die an der EU-Grenze anfallenden Abgaben in zwei Millisekunden verarbeitet werden können. So wie ich das sehe, gibt es da kein Problem. Durch die Common Travel Area gibt es schon Freizügigkeit im Personenverkehr. Und im Güterverkehr können geringwertige lokale Erzeugnisse die Grenze problemlos passieren. Mit modernen Überwachungstechnologien sollte es da gar keine Probleme geben. Was am Ende für die EU zählt, ist, dass sie ihr Geld bekommt und der Handel geregelt ist. – Besteht die Option noch, einfach vom Verhandlungstisch aufzustehen und die EU ohne Deal zu verlassen?Damit plant zwar niemand, aber es könnte immer noch passieren. Das will keiner.- Es wäre auch nicht mehr genug Zeit, um sich auf so ein Szenario vorzubereiten, oder?Schon heute findet alles unter WTO-Regeln statt. Die nötigen Veränderungen könnten über Nacht vorgenommen werden. Man würde einfach die derzeitigen Zölle vorerst beibehalten, alles bliebe genauso, wie es ist, nur dass Großbritannien ein eigenständiges Mitglied der WTO würde. Das wird Ende März 2019 sowieso passieren. Ab dann unterliegen unsere Handelsbeziehungen rechtlich den Regeln der WTO – also Nichtdiskriminierung, GATS (General Agreement on Trade in Services) et cetera. – Großbritannien bliebe also einerseits vorerst in der Zollunion, wäre aber zugleich eigenständiges WTO-Mitglied?Nein, wir verlassen im März kommenden Jahres die Zollunion, allerdings bleibt alles für die Dauer der Übergangsphase gewissermaßen eingefroren. – Pro forma bleibt also alles beim Alten, aber es findet bereits nach WTO-Regeln statt? Genau so ist es. Es kann nicht anders sein, weil wir die EU dann verlassen haben. Wir sind ab Ende März 2019 ein Drittland. – Vielen dürfte das nicht klar sein.Formal ist es so, dass die Beziehungen nach Verlassen der EU den WTO-Regeln unterliegen. – Tony Blair kann den Brexit also nicht rückgängig machen?Tony Blair ist irrelevant. Niemand will das. Es gibt eine Menge Meinungsumfragen, aus denen hervorgeht, dass die Leute die Sache jetzt zu Ende bringen wollen. – Es trat sogar eine neue Partei namens Renew bei den Kommunalwahlen an, die ein weiteres Referendum fordert.Das ist alles vergebene Liebesmüh. Die Kommunalwahlen spielen für den EU-Austritt keine Rolle. Viele Leute auf dem Kontinent verstehen nicht, dass ein Referendum hier eine sehr ernste Angelegenheit ist. Wir halten nicht viele davon ab. Wir wiederholen auch ganz sicher keines, das eine Entscheidung hervorgebracht hat. – Warum nicht?Das würde unter demokratischen Gesichtspunkten für eine schreckliche Idee gehalten. Das macht man einfach nicht. Was für eine absurde Vorstellung! Alle haben das Referendum gehasst. Das Fernsehen war voller Sendungen, die man nicht sehen wollte. Man musste sich sechs Monate lang damit auseinandersetzen. Die Leute dachten vielleicht drei Monate lang ernsthaft darüber nach, bevor sie sich entschieden haben. Wenn man sie jetzt fragen würde, ob sie das noch einmal wollen, würden sie einem . . . Blair weiß das. Das ist ein Witz.- Was ist aus den Differenzen innerhalb des Kabinetts von Theresa May geworden?Die sind Geschichte. Vor der Zusammenkunft in Chequers war die Situation ziemlich ernst. Nachdem man sich dort auf den Text einigte, singen alle vom selben Blatt. Man ist wohl zu der Übereinkunft gekommen, dass man zwar den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen wird, aber eine Strategie verfolgen will, die so viel Gemeinschaftlichkeit und gemeinsame Standards wie möglich ermöglicht. In der Auto- oder Chemieindustrie hat es einfach keinen Sinn, andere Standards zu haben. Das entspricht einfach dem gesunden Menschenverstand, auch wenn es für bestimmte Länder Abweichungen geben mag, etwa für Autoexporte in die Vereinigten Staaten. Es waren alle der Meinung, dass man die Regulierung von Themen wie Biotechnologie langfristig in die eigene Hand nehmen will. – Auch Finanztechnologie.Insbesondere die Finanzwirtschaft. Wenn man sich in der City einmal daran gewöhnt hat, dass Großbritannien aus der EU austritt, wird man dort eine angemessene Regulierung fordern – nicht dieses Zeug aus Brüssel, das stark von den Theorien von Leuten geprägt ist, die nicht in der City tätig sind. Man wird dort evolutionäre Veränderungen sehen. Es geht zurück in die Zukunft. Die City ist eine jahrhundertealte Institution. Sie hat während des Empire unter den Augen der Bank of England den ganzen Handel mit Indien und Afrika finanziert. – Was werden die europäischen Banken tun, die derzeit große Teile ihres Geschäfts über London abwickeln?Sie werden weitermachen wie bisher. Es gibt keine echte Alternative. In Frankreich tut man so, als könne man London in Paris replizieren. Dabei rangiert Paris auf Rang 24 im weltweiten Ranking. Das ist gar nichts. Man muss sich nur die Infrastruktur dieser Stadt ansehen, den Umstand, dass sie weltweit auf Platz 1 gesehen wird. Hier ist der wichtigste Ort, wenn man effizient Geschäfte machen will. Wenn man einmal die Politik der Junckers und Verhofstadts außen vor lässt, liegt die Ironie der ganzen Sache darin, dass die EU solche freien Märkte haben will. Sie hat in hohem Maße vom freien Zugang zu Dienstleistungen profitiert. Wenn man sich einmal die Philosophie der EU ansieht, geht es um den ungehinderten Fluss von Kapital, Luftfahrtabkommen, den Abbau von Hemmnissen im Handel mit Dienstleistungen. Aus Sicht der EU ist Freihandel mit Dienstleistungen das, was man möchte. Am Ende gibt es ein starkes Eigeninteresse. Es wird Kanada Plus dabei herauskommen. Das bedeutet keine Zölle, keine nichttarifären Handelshemmnisse.- Es wäre also nicht zum Nachteil Großbritanniens?Die EU würde am meisten verlieren, wenn es zu keiner Übereinkunft käme. Wir haben reichlich Berechnungen dazu angestellt. Ohne Deal wäre die EU wirklich in einem schlechten Zustand. Sie hätte kein Geld, der Brexit käme schneller, und es würden in beide Richtungen hohe Zölle fällig. Das wäre keine gute Idee. Zu Beginn der Verhandlungen haben sich Jean-Claude Juncker, Guy Verhofstadt und Michel Barnier auf politische Gesten beschränkt. Die darin versteckte Botschaft lautete: Wir werden Großbritannien für den Austritt bestrafen. Mittlerweile ist man realistischer geworden. Zahlreiche Regionen der EU wären nicht sehr glücklich, wenn es zu keiner Einigung käme. Es ist offensichtlich, dass es einen Deal geben muss.- Es war also alles nur politischer Theaterdonner?Genau. Es ist sehr ermutigend, dass das nun hinter uns zu liegen scheint. Und Angela Merkel, die bislang als Bannerträgerin der europäischen Einigung aufgetreten ist, muss mittlerweile viel vorsichtiger sein. Sie muss sich um die AfD Sorgen machen.- Und die jüngsten Ansagen Barniers?Solange Barnier das Gefühl hat, dass er die britische Politik damit in Wallung bringen kann, würde ich nichts anderes von ihm erwarten. Wenn Barnier und den EU-27 erst einmal klar geworden ist, dass es keinen Soft Brexit geben kann, werden sie auch erkennen, dass kein Deal extrem schädlich für sie wäre.- Muss Theresa May nicht auch Jeremy Corbyn fürchten?Wenn die Tories den Brexit hinkriegen, werden sich ihnen viele Labour-Unterstützer anschließen. Der EU-Austritt hat große Auswirkungen auf Leute mit niedrigeren Einkommen. Nach unserer Rechnung erhöht sich der Lebensstandard von Menschen, deren Einkommen bei 60 % des Medians liegt, um 15 %. – Wie kommt das?Das liegt zum einen an der Entwicklung der Verbraucherpreise, zum anderen an der Kontrolle der Zuwanderung ungelernter Arbeitskräfte. Die Freizügigkeit im Personenverkehr zu einem der Grundpfeiler der EU zu erklären war meiner Meinung nach ziemlich dumm. Mein Kollege Stephen Nickell hat für die Bank of England ein Papier zu den Auswirkungen auf die Löhne verfasst. Demnach fallen die Löhne ungelernter Arbeitskräfte um 2 %, wenn sich das Arbeitskräfteangebot in dieser Kategorie um 10 % erhöht. Das ist eine ganze Menge. Alles in allem ist die Idee, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten gegen ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen gestimmt haben sollen, völlig falsch. Sie verstehen ihre Interessen sehr gut. Wenn man dann den ganzen Protektionismus der EU noch berücksichtigt . . . Man hat versucht, den Leuten Sand in die Augen zu streuen, wenn es um die Lebensmittelpreise geht. Dabei weiß jeder, dass die EU für hohe Preise sorgt. Für ärmere Menschen ist das ein großes wirtschaftliches Problem. Man hört viel darüber, was der Brexit für wenig effiziente Industriebetriebe bedeuten würde. Aber das verarbeitende Gewerbe stellt nur noch 8 % der Arbeitsplätze. 1971 war es noch mehr als ein Drittel. Wir haben fast ein halbes Jahrhundert der Deindustrialisierung hinter uns.—-Das Interview führte Andreas Hippin.