IM INTERVIEW: SUMA CHAKRABARTI

"Wir beobachten Syrien sehr genau"

Der Präsident der einst als Osteuropabank bekannten EBRD über die Expansion des Instituts, das Verhältnis zu Weltbank und AIIB - und die Lage in der Türkei

"Wir beobachten Syrien sehr genau"

Für Suma Chakrabarti ist die geografische Expansion der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) noch lange nicht beendet. Libyen könnte schon bald beitreten. Syrien beobachtet er genau. Auch ein Engagement in Ländern südlich der Sahara ist in den kommenden Jahren für ihn denkbar. – Herr Chakrabarti, seit dem Mauerfall hat sich viel geändert. Auch für die EBRD?Wir haben vor 30 Jahren ein Geschäftsmodell angenommen –vielleicht sollte man besser sagen, dass wir einen Schwerpunkt gesetzt haben -, an dem sich nichts geändert hat. Wir helfen Volkswirtschaften, zu viel effizienteren Marktwirtschaften zu werden. Einige Dinge haben sich natürlich geändert.- Und die wären?Erstens die Regionen, in denen wir tätig sind, und der historische Kontext. Als wir angefangen haben, waren wir ausschließlich in ehemaligen kommunistischen Planwirtschaften aktiv. Heute sind wir auf drei Kontinenten unterwegs, was für ein regionales Institut ungewöhnlich ist.- Wie lässt sich das erklären?Wir sind vielleicht so ein bisschen etwas wie ein Hybrid. Das liegt daran, dass unser Geschäftsmodell unter einer breiten Spanne von Voraussetzungen funktioniert – von Marokko bis in die Mongolei, von Estland bis Ägypten. Wir sind mittlerweile auch in Ländern tätig, in denen es nie eine zentrale Planwirtschaft gegeben hat. Das ist eine große Veränderung im Vergleich zu 1991. Heute würde man sagen, dass die EBRD für eine größere Bandbreite von Ländern relevant ist als ursprünglich gedacht.- Was hat sich noch geändert?Ich würde sagen, 1991 hätten wir noch gedacht, das einzige große Problem dabei, diese Länder zu besseren Marktwirtschaften zu machen, sei die Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Wir haben uns andere qualitative Themen nicht näher angesehen. Seitdem haben wir viel darüber gelernt, was eine effiziente Marktwirtschaft auszeichnet. Wir haben erkannt, dass die Probleme viel komplexer sind.- Wie drückt sich das aus?Wir haben jetzt sechs Eigenschaften definiert, die eine gut funktionierende Marktwirtschaft auszeichnen. Wir denken natürlich, dass die traditionelle Idee der Wettbewerbsfähigkeit immer noch eine Rolle spielt. Manchmal hilft sie diesen Ländern, konkurrenzfähiger zu werden und sich den fortgeschritteneren Ländern anzunähern. Aber sie ist eben nur eine von sechs Eigenschaften.- Was sind die anderen?Diese Länder müssen gut regiert werden, nicht nur auf der Makroebene, sondern auch auf der Ebene der Unternehmen und Banken. Auch sie müssen gut geführt werden. Wir sprechen heute auch über den grünen Wandel. Niemand denkt, dass moderne Marktwirtschaften die Umwelt ebenso stark verschmutzen sollten wie zuvor. Wir versuchen, die Volkswirtschaften durch unsere Maßnahmen und Investitionen grüner zu machen. Für uns spielt auch der Zugang von Unternehmerinnen zu Finanzierungen eine wichtige Rolle. Wir sprechen über Jugendarbeitslosigkeit, die Möglichkeiten zur Qualifizierung, den Zugang zu Arbeitsplätzen. Und wir machen uns Sorgen um regionale Ungleichheiten.- Wie muss man sich das vorstellen?In Ländern, die so groß sind wie die Türkei, wo wir der größte institutionelle Investor sind, sind Städte wie Istanbul sehr entwickelt. Aber wir kümmern uns auch um die Armut in den ländlichen Regionen Anatoliens. Inklusion ist ein großes Thema. Regionale Integration war immer ein Thema für uns, aber es ist noch wichtiger geworden.- In welcher Hinsicht?Um die Jahrtausendwende dachten wir, die einzige Integration, die wirklich eine Rolle spielt, sei die zwischen den europäischen Ländern und der Europäischen Union. Das spielt immer noch eine Rolle. Aber die Integration in die breitere Weltwirtschaft ist auch wichtig. Es hilft ungemein, wenn wir auch Investoren aus den Golfstaaten, aus China, Indien und Nordamerika für diese Länder gewinnen können.- Eine Eigenschaft fehlt noch.Widerstandsfähigkeit. Eine der wichtigsten Lektionen, die wir aus der Finanzkrise gelernt haben, war die Bedeutung dieser Eigenschaft für die Volkswirtschaften, in denen wir tätig sind. Wir haben versucht, ihre Institutionen und Entscheidungsfindungsprozesse entsprechend zu verbessern. Was ich sagen will, ist: Ganz tief drin sind wir noch das vom privaten Sektor getriebene Institut, das wir immer gewesen sind. Aber wir haben erkannt, dass die Komplexität dessen, was wir tun, viel größer ist als 1991. Wir haben eine Menge dazugelernt.- Die EBRD hat ihre Zuständigkeiten sowohl regional als auch inhaltlich stark ausgeweitet. Das wirft die Frage auf, in welchem Namen sie agiert.Wir handeln am Ende im Namen unserer Anteilseigner. Und das Großartige an der EBRD und anderen multilateralen Förderinstituten ist, dass sich darunter sowohl Empfänger- als auch Geberländer befinden. Es ist wirklich wichtig, dass ein Land wie Tadschikistan neben Deutschland im Board sitzt. Dadurch hat Tadschikistan eine Stimme. Wir versuchen, durch unsere Expansionsschritte die Interessen von Empfängern und Gebern zusammenzubringen. Zuerst expandierten wir in die Türkei, dann in die Mongolei, dann nach Nahost und Nordafrika. Griechenland und Zypern kamen dazu. All das hatte die einstimmige Zustimmung der Anteilseigner. Es war das Management, das diese Ideen vorgeschlagen hat. Aber die Anteilseigner wollten sie verwirklichen.- Gibt es Grenzen der geografischen Expansion?Ich glaube, der große Erfolg der EBRD liegt darin, dass wir bei der Expansion immer Schritt für Schritt vorgegangen sind. Die Mongolei war nur ein Land. Auch die Türkei, obwohl sie zugegebenermaßen ein großes Land ist. In Nordafrika und Nahost haben wir mit vier Ländern angefangen und haben dann langsam den Libanon, die Westbank und Gaza dazugenommen.- Und wie geht es weiter?Vielleicht kommen eines Tages Libyen, Algerien und Syrien dazu. Die geografische Expansion wird vor allem dadurch begrenzt, was das Management für erreichbar hält, wo die Probleme am größten sind. Deshalb haben wir diese Diskussion über ein künftiges Engagement in Afrika südlich der Sahara. Wenn wir dort jemals aktiv werden sollten, wäre mein Rat an die Anteilseigner, das schrittweise zu tun, wie wir es auch in Nahost und Nordafrika getan haben, und die Länder auszuwählen, in denen wir mit unserem Geschäftsmodell die größten Erfolgsaussichten haben.- Wie sehen Sie das Verhältnis zur Weltbank?Ich hatte eine sehr offene Diskussion darüber mit deren CEO Kristalina Georgieva und dem möglichen neuen Präsidenten David Malpass. Ich habe gesagt, dass ich mir eine viel systematischere Beziehung zwischen Weltbank und EBRD wünschen würde. An einigen Orten ist das Verhältnis gut, anderswo gibt es an Orten, wo wir beide tätig sind, keinerlei Zusammenarbeit. Das ist keine systematische Herangehensweise. Mit dem IWF funktioniert das interessanterweise viel besser.- Wie drückt sich das aus?Wenn der IWF ein Programm in einem Land auflegt, bittet er uns um Hilfe, wenn es um Dinge wie die Konditionen für das Investitionsklima oder Korruptionsbekämpfung geht. Wir haben dadurch eine ziemlich enge Beziehung aufgebaut. Eine der ersten Aufgaben, wenn David Malpass übernimmt, wäre, eine Liste von Ländern aufzustellen, in denen wir eine systematischere Beziehung haben wollen, auf welchen Gebieten wir enger zusammenarbeiten wollen. Wir arbeiten schon seit langem beim Research zusammen, wo die Kooperation sehr gut funktioniert. Auf der operativen Seite läuft es dagegen mit wechselndem Erfolg, und ich hätte gerne mehr Konsistenz. Mit der AIIB haben wir ein extrem gutes Verhältnis.- Ist die AIIB nicht sehr politisch?Ich denke, das war die große Sorge mancher Europäer und Nordamerikaner. Man fürchtete, dass die AIIB anders agieren würde, weil sie in Peking sitzt. China ist zwar der größte Anteilseigner, aber Deutschland ist auch ein ziemlich großer, wie auch Großbritannien und andere westliche Länder. Wir sind von der AIIB um Hilfe bei der Setzung von Standards gebeten worden. Sie wollten, dass wir unsere Erfahrungen beim Aufbau der Bank und bei der Festlegung unserer Zielsetzungen mit ihnen teilen. Sie haben sich Ziele und Standards gesetzt, die den unsrigen genau entsprechen. Deshalb finanzieren wir Projekte gemeinsam mit der AIIB. Weil wir so ein vertrauensvolles Verhältnis auf der Führungsebene haben, konnten wir sogar eine eigene Einheit mit EBRD-Mitarbeitern innerhalb der AIIB einrichten, wo wir versuchen, eine gemeinsame Pipeline von Projekten zu entwickeln. Es ist eine sehr enge Beziehung, die auf den gleichen Werten und Standards beruht. Das zeigt, dass eine Institution, in der China der größte Anteilseigner ist, sich ebenso auf gemeinsame Werte und Standards konzentrieren kann wie eine Institution, in der China nur ein kleiner Anteilseigner ist – wie etwa die EBRD.- Die einen halten die AIIB für ein Instrument Pekings, die anderen halten die Weltbank für von den USA dominiert. Wo steht die EBRD?Ich denke, dass beides nicht stimmt. Egal, wer der größte Anteilseigner ist, er wird seinen Willen nicht durchsetzen können, ohne sich um die Zustimmung der anderen Anteilseigner zu bemühen. Das gilt für die Weltbank wie für die AIIB. Ich arbeite seit Ende der 1980er Jahre mit der Weltbank zusammen. Unter jeder Regierung haben sich die USA bemüht, zu einem gemeinsamen Vorgehen auf Basis der festgelegten Ziele zu kommen. Ich denke, dass der neue Präsident der Weltbank dasselbe tun wird.- Vielleicht wird es schwieriger für ihn, weil sich Washington nicht mehr so für die Welt interessiert.Wenn ein neuer Präsident die Führung einer multilateralen Institution übernimmt, muss er zeigen, dass er nun für diese Institution tätig ist und nicht mehr für die Regierung, die er gerade verlassen hat. Als ich bei der EBRD angekommen bin, habe ich klargemacht, dass ich hier keine politischen Ziele Großbritanniens verfolgen will, sondern die Ziele der Bank. Man muss sich von seinem früheren Arbeitgeber verabschieden. Ich nehme an, er wird die ersten drei Monate darauf verwenden, mit seinen Mitarbeitern darüber zu sprechen, was sie motiviert, was die großen Probleme sind, um die er sich kümmern muss, und darauf, herauszufinden, wo die Anteilseigner stehen. Die US-Position wird ihm bekannt sein, aber er muss auch die der anderen kennen.Ich bin mir sicher, dass David Malpass ein sehr weiser Mann ist und das sehr gut machen wird.- Besteht nicht die Gefahr, dass die USA weniger Geld zur Verfügung stellen?Nicht bei der Weltbank selbst. Aber nach der jüngsten Kapitalerhöhung wurde der Anteil Washingtons an der IFC etwas verwässert. Und bei der IDA ist es in den vergangenen 15 Jahren zu einer Reduzierung der Beiträge gekommen.- Die Türkei ist eines der größten EBRD-Förderländer, aber die Entwicklungen dort sind – jenseits Ihrer Projekte – wenig ermutigend.Ja, unsere Projekte sind sehr erfolgreich. Danke, dass Sie das erwähnen. Die Privatwirtschaft hat in unserem türkischen Portfolio einen Anteil von 97 %. Es hat eine wirtschaftliche Verlangsamung gegeben. Viele in- und ausländische Investoren haben daraufhin ihre Investitionspläne zurückgefahren. Das hat sich auch auf unsere Pipeline ausgewirkt, und wir haben nicht so viel investiert. Ich gehöre zu denen, die das Glas für halb voll und nicht für halb leer halten, wenn es um die Wirtschaftspolitik geht. Das neue Programm der türkischen Regierung namens NEP enthält alle Reformen, die nötig sind, um die Türkei für Investoren wieder attraktiv zu machen. Innerhalb eines Jahres dürfte die Türkei damit nicht nur für die EBRD wieder zu einem wichtigen Zielland werden. Ich bin recht optimistisch, was die Wende dort angeht.- Wie sieht es in der Türkei mit Themen wie Inklusion aus?Unser erstes “Women in Business”-Programm haben wir in der Türkei aufgelegt. Um ein paar Beispiele zu geben: Wir hatten das Problem, dass Unternehmerinnen nicht so leicht Kredite von den Banken bekamen, weil die Banken zu dieser Zeit auf Immobilien als Sicherheiten bestanden. Und viele Immobilien waren auf den Ehemann eingetragen. Die Anforderungen zu ändern war eine große systemische Verbesserung. Eines meiner Lieblingsprojekte war, während der Stoßzeiten und abends mehr weibliche Crewmitglieder auf die Fähren in Istanbul zu bringen. Dadurch fühlen sich Frauen sicherer und nehmen öffentliche Dienstleistungen eher in Anspruch. Die Türkei war in dieser Hinsicht für uns ein Labor für Dinge, die wir dann in andere Länder getragen haben.- Wie wird es in Nahost weitergehen? In der Westbank sind Sie schon vertreten.Wir haben in der Westbank kein Büro eröffnet. Wir nutzen unser Büro in Amman, um in der Westbank und in Gaza zu investieren. Im Moment geht es aber fast nur um die Westbank. Die Sicherheitslage im Gazastreifen macht es sehr schwer, dort Projekte zu entwickeln. Wir haben jetzt auch ein Büro in Beirut. Wir hatten ein sehr gutes erstes Jahr im Libanon, wo wir 244 Mill. Euro investierten. Im vergangenen Jahr löste Ägypten die Türkei als wichtigstes Förderland ab. Wir haben große Hoffnungen, was die Ausweitung unserer Investitionen in Marokko angeht.- Welche neuen Länder könnten dazukommen?Nach den derzeitigen Definitionen in unserer Satzung könnten drei Länder beitreten: Algerien, Libyen und Syrien. Libyen hat die Mitgliedschaft 2014 beantragt und ist auf diesem Weg am weitesten fortgeschritten. Wenn alles gut geht, wird dieser Prozess im Sommer abgeschlossen. Es müssen noch ein paar Dinge finalisiert werden.- Mit welcher Regierung von Libyen?Mit der international anerkannten Regierung in Tripolis. Ich habe es allerdings nicht eilig damit, in Libyen operativ tätig zu werden, denn die Sicherheitslage ist weiterhin schwierig. Wir müssen abwarten, denn wir wollen nicht mehr für Security ausgeben, als wir in Projekte investieren können. In Algerien beobachten wir, was in den Städten passiert. Das Land muss seine von Öl und Gas abhängige Wirtschaft diversifizieren. Es braucht mehr private Investitionen. Wir glauben, dass wir da helfen können. Was Syrien betrifft, gehe ich jedes Jahr auf die Brüsseler Konferenz. Aber bevor das Land Mitglied und Förderziel werden kann, muss man sich auf Frieden und eine politische Lösung einigen. Ich glaube, dass das nicht so schnell passieren wird. Aber wir beobachten Syrien sehr genau.- Spielen beim Engagement in Nahost und Nordafrika geopolitische Erwägungen eine Rolle? Manches erinnert an französische Strategien der 1970er Jahre.Ich glaube nein, aber es ist eine sehr interessante Frage. Was unsere traditionelle Arbeitsregion, Zentral- und Osteuropa sowie die ehemalige Sowjetunion angeht, gab es ganz klar einen geopolitischen Moment, als die Berliner Mauer fiel. Deshalb lag unser Schwerpunkt damals dort. Mit Blick auf die Türkei gab es mit Sicherheit ein geopolitisches Moment, weil das Land langfristig die EU-Mitgliedschaft anstrebte und entsprechende Diskussionen begannen. Griechenland und Zypern sind zeitlich begrenzte Mandate, die, wenn man so will, mit einer geoökonomischen Krise zu tun hatten, nämlich der Frage danach, wie es mit der Eurozone weitergeht und wie man sich von den Problemen erholen kann. Im Falle von Nahost und Nordafrika war der geopolitische Moment der Arabische Frühling. Er sorgte damals dafür, dass sich die Politik in Bewegung setzte. Wir wollen uns natürlich nicht als geopolitisches Instrument von bestimmten Anteilseignern nutzen lassen. Aber man kann zweifellos sagen, dass bestimmte Entscheidungen von Anteilseignern geopolitisch motiviert sind, wenn es darum geht, einem Land in einem Moment der Krise oder der Veränderung zu helfen.- Wo steht die EBRD in fünf Jahren?Es wird ihr sehr gut gehen. Sie hat eine langfristige Zukunft. Man muss sich einmal überlegen, dass vor der Finanzkrise darüber nachgedacht wurde, das Institut zu schließen. Unser Kerngeschäft bewegte sich in die richtige Richtung. Aber durch die Krise wurde neu definiert, was eine gute Marktwirtschaft ist. Ich erwarte, dass sich unser Geschäft in den 38 bestehenden Mitgliedsländern gut entwickeln wird und dass wir in einigen Ländern südlich der Sahara tätig werden. Aber das hängt von der Zustimmung der Anteilseigner ab. Aus meiner Sicht sollte Europa ein starkes Interesse an einigen dieser Länder haben sollte. Ich werde die Bank in etwas mehr als einem Jahr verlassen. Ich habe das Gefühl, dass das Institut bei sehr guter Gesundheit ist. Was ich am meisten vermissen werde, sind meine professionellen Kollegen. Vor ihnen liegt eine große Zukunft.—-Das Interview führte Andreas Hippin.