IM INTERVIEW: ROBERT HOLZMANN

"Wir brauchen beim Inflationsziel mehr Flexibilität"

Das EZB-Ratsmitglied über die Folgen des Coronavirus für die Euro-Wirtschaft, neue Zinssenkungsspekulationen, die Lage in Berlin und die Strategieüberprüfung

"Wir brauchen beim Inflationsziel mehr Flexibilität"

Herr Holzmann, was wird 2020 für die Europäische Zentralbank (EZB) die größere Herausforderung: die erste umfassende Strategieüberprüfung seit dem Jahr 2003, die bereits bis Jahresende abgeschlossen sein soll – oder die Aufgabe, die Euro-Wirtschaft in Zeiten von Coronavirus, Handelskonflikten, Brexit et cetera auf Wachstumskurs zu halten?Es sind immer die aktuellsten Ereignisse, die eine besondere Aufmerksamkeit hervorrufen. Und sicher sind aktuell alle Länder gut beraten, die Gefahr des Coronavirus sehr ernst zu nehmen und zu verhindern, dass es zu einer Pandemie kommt. Aber ich bin optimistisch, dass es gelingen wird, die Ausbreitung in Grenzen zu halten. Dann lassen Sie uns zunächst bei der wirtschaftlichen Lage und der aktuellen Geldpolitik bleiben: Wie optimistisch sind Sie denn, dass die Euro-Wirtschaft das Coronavirus ohne größeren Schaden übersteht? Chinas Wachstum dürfte zumindest im ersten Quartal 2020 deutlich sinken und das Land hat weltweit immer mehr Gewicht?Es ist immer gut, die Erfahrungen der Vergangenheit heranzuziehen. Solche Ereignisse haben üblicherweise nur einen eher kurzen wirtschaftlichen Effekt, und es kommt in der Regel zu einer v-förmigen Wirtschaftsentwicklung – mit einem kurzfristigen Einbruch und einer raschen Erholung. Wenn es gelingt, dieses Virus in den nächsten Monaten zu überwinden, wird der Einfluss auf die Weltwirtschaft und auch auf die europäische Wirtschaft sehr begrenzt sein und im Bereich von Zehntelprozentpunkten liegen. Das wird zwar unangenehm sein, aber keine Katastrophe darstellen. Die Ängste an den Finanzmärkten können sich dann auch ganz schnell wieder verflüchtigen?Die Finanzmärkte sind bekannt dafür, dass sie mitunter auf einzelne Ereignisse sehr heftig reagieren. Das kann sich schnell wieder korrigieren. Zum Jahreswechsel klang der EZB-Rat optimistischer zum Wachstumsausblick, auch dank der Teileinigung im US-chinesischen Handelsstreit (Phase 1) und der Wahl in Großbritannien. Ist dieser Optimismus trotz des Coronavirus weiter vorhanden?Es gibt weiter Grund, die wirtschaftliche Lage im Euroraum mit einem gewissen Optimismus zu sehen. Aber was den Brexit, den Handel oder das Coronavirus betrifft – man kann sich in allen drei Fällen auch irren und es kann anders ausgehen. Das muss man im Hinterkopf haben. Dennoch besteht hier derzeit kein Anlass, in Panik zu verfallen. Folglich sind aber im März keine gravierenden Korrekturen bei den neuen EZB-Projektionen zu erwarten? Im Dezember 2019 hatten diese für 2020 1,1 % und für 2021 und 2022 jeweils 1,4 % Wachstum vorausgesagt.Da ich nicht für die Projektionen verantwortlich bin, kann ich Ihnen das nicht so direkt sagen. Die Modellergebnisse für die Eurozone werden, auf Grund der Größe des Währungsraums, überwiegend von der inländischen Entwicklung geprägt. Gegenwärtig herrscht die Erwartung vor, dass es 2020 zu einem Ende der konjunkturellen Talsohle kommt oder diese aktuell bereits durchschritten wird. Dann kommen in den Modellen noch Außenhandelseffekte hinzu. Mit Blick auf das Coronavirus kommt nun ein Unsicherheitsfaktor hinzu, dessen Auswirkungen zum jetzigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen sind. Mit dramatischen Korrekturen der Projektionen ist aber wohl nicht zu rechnen. Viele bange Blicke richten sich aktuell auf Deutschland, wo es politische Turbulenzen gibt, für die sonst andere Länder bekannt sind. Mit wie großer Sorge blicken Sie auf den großen Nachbar?Die Vorkommnisse in der größten Volkswirtschaft Europas interessieren naturgemäß jeden Europäer. Glücklicherweise haben politische Ereignisse nicht notwendigerweise immer negative ökonomische Effekte. Klar ist aber auch: Für Deutschland und Europa ist eine handlungsfähige Regierung in Berlin von großer Bedeutung. Deutschland braucht eine politische Führung, die auch ökonomisch richtungsweisend agiert. Erst recht, weil die deutsche Wirtschaft und vor allem die wichtige Industrie in der Krise stecken? Mancher Beobachter argwöhnt schon wieder, Deutschland könne wie Anfang der 2000er Jahre zum “kranken Mann Europas” werden.Ich bin von Natur aus ein optimistischer Mensch und ich bin überzeugt, dass allein die Diskussion über diese Gefahr Wirkung zeigt und die Bundesregierung künftig noch stärker Strukturreformen in den Vordergrund stellen wird. Deutschland erlebt wirtschaftlich schwierige Zeiten und die Herausforderungen sind vor allem auch struktureller Natur. Die deutsche Regierung kann und wird aktuelle Probleme nicht aussitzen. Vielmehr wird sie den Reformkurs fortsetzen, der vor mehr als zehn Jahren begonnen wurde und der sehr erfolgreich gewesen ist. Aktuell richten sich aber vor allem auch Forderungen an Berlin, fiskalpolitisch mehr zur Stützung der Wirtschaft zu tun – nicht zuletzt auch aus der EZB.Ich glaube, der Spielraum in Deutschland, viel Geld produktiv auszugeben, ist eher begrenzt. Unabhängig davon denke ich aber, dass Deutschland wahrscheinlich künftig noch mehr in Infrastruktur und digitale Ökonomie investieren wird. Sind Sie für die Inflationsentwicklung im Euroraum ähnlich optimistisch wie für den Konjunkturausblick? Zumindest die marktbasierten Inflationserwartungen sind wieder spürbar gesunken.Die Inflationserwartungen sind zuletzt etwas abgesackt. Aber die Entwicklung der Inflation selbst geht in die richtige Richtung. Die EZB-Projektionen von Ende 2019 zeigen, dass man auf Euro-Ebene einen Anstieg in Richtung 2 % binnen der nächsten drei Jahre erwartet. Für 2022 lautete die Projektion 1,6 % – was viele Euro-Notenbanker als nicht in Einklang mit dem Ziel von unter, aber nahe 2 % betrachten. Sollte diese Projektion im März nach unten korrigiert werden müssen – würde sich daraus automatisch Handlungsdruck für die EZB ergeben?Zunächst einmal ist wichtig: Die 1,6 % für 2022 sind der Jahresdurchschnitt. Dahinter steckt für Ende 2022 schon ein Wert von 1,7 %. Aber selbst wenn die Prognose auf 1,5 % sinken würde, wäre das für mich nahe an den 2 %. Ich bin da ganz entspannt. Eine leichte Abwärtsrevision des Inflationsausblicks allein würde meines Erachtens keine neuerliche geldpolitische Lockerung erfordern oder rechtfertigen. An den Märkten wird aber wegen des Coronavirus schon wieder munter auf eine weitere EZB-Zinssenkung spekuliert – ähnlich wie im Fall der US-Notenbank Fed. Wie unwohl fühlen Sie sich dann mit solchen Erwartungen?Die Märkte neigen dazu, zu übertreiben. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass die Fed ihren Leitzins weiter senkt. Ich glaube aber nicht, dass die bisherigen Ereignisse rund um das Coronavirus allein Fed-Chef Jerome Powell dazu verleiten werden, eine baldige Zinssenkung ins Auge zu fassen. Und die EZB kann auch ihre “Politik der ruhigen Hand” fortsetzen?Wir werden das sicher diskutieren. Ich gehe davon aus, dass es im EZB-Rat weiter eine breite Unterstützung für eine Politik der ruhigen Hand geben wird. Der EZB-Rat betont nach jeder Zinssitzung seine Bereitschaft, im Notfall die Geldpolitik weiter zu lockern. Zugleich hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde zuletzt gesagt, dass der Spielraum auch der EZB erheblich reduziert sei. Hat die EZB also längst ihre Grenzen erreicht?Die EZB hat noch nicht das Ende ihrer Möglichkeiten erreicht. Ganz klar ist aber auch, dass die Geldpolitik nur bestimmte Dinge leisten kann und andere Dinge nicht. Hinzu kommt, dass die negativen Nebenwirkungen der lockeren Geldpolitik immer offensichtlicher werden. Falls sich akuter Handlungsbedarf auftun sollte, müssten jetzt auch andere Instrumente genutzt werden, insbesondere Instrumente der Fiskalpolitik. Die Verantwortung von Geld- und Fiskalpolitik könnte und sollte da in Zukunft etwas gleichgewichtiger sein als in der Vergangenheit. Welche Möglichkeiten hat die EZB denn noch? Der Einlagenzins liegt schon bei -0,5 % und es gibt bereits Diskussionen, ob damit das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Und bei den Anleihekäufen droht die EZB ohnehin schon, an selbst gesetzte Limits zu stoßen.Bei allen gegenwärtig genutzten Instrumenten könnte man noch nachlegen, wenn wirklicher Handlungsbedarf bestünde. Die Geldpolitik sollte aber nur weiter gelockert werden, wenn es zu einem wirtschaftlichen Einbruch kommt und nicht schon bei einer Abflachung der Wachstumsdynamik. Man darf nicht überreagieren. Jedes Handeln der EZB im Krisenfall würde man aber verstärken müssen durch die Fiskalpolitik. Wie genau, das hängt dann von der Art des Schocks ab. Bei einem Nachfrageschock muss die Fiskalpolitik anders vorgehen als bei einem Angebotsschock. Könnte die EZB denn auch zu ganz anderen Maßnahmen greifen wie dem Kauf von Aktien oder dem sogenannten Helikoptergeld, also Geldgeschenken an die Bürger?Es ist sicher immer schön, diese Theorien zu diskutieren. Aber wenn man das mal zu Ende durchdenkt, zeigen sich die Fallstricke. Nehmen Sie das Beispiel Helikoptergeld: Wenn man das ein Mal macht – wie will man den Menschen dann erklären, warum das nicht auch ein zweites, drittes oder viertes Mal geht? Das zeigt die politischen Grenzen von Helikoptergeld auf. Solche Ansätze sind sehr gefährlich und wir sollten die Finger davon lassen. Ende 2019 haben Sie gesagt, dass womöglich schon 2020 Zinserhöhungen möglich seien. Hat sich das mit dem Coronavirus erledigt?Jetzt muss man sicher abwarten, wie das Coronavirus-Problem gelöst wird. Aber wenn es so kommt wie erhofft, dass es nur eine kurzfristige Abschwächung gibt, die ab Sommer schon wieder aufgeholt wird, dann bestünde Spielraum. Dann könnte man eventuell zum Jahresende daran denken, die Forward Guidance zu überprüfen, um wie die schwedische Zentralbank auf Nullzinsen hinzuarbeiten. Eine Zinserhöhung würde es dann aber wohl erst 2021 geben. Sollte die EZB bei nächster Gelegenheit den Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik mutiger und entschlossener angehen als in den vergangenen Jahren und speziell 2017, als trotz Booms weiter munter in großem Stil Anleihen gekauft wurden?Man muss natürlich auch aufpassen, künftig nicht den gegenteiligen Fehler zu machen, dass man also zu schnell strafft und das später schnell wieder korrigieren muss. Das belastet auch die Glaubwürdigkeit. Wenn sich aber die Wirtschaft ab dem Sommer wieder beschleunigt, sollte man den Ausstieg aus der Negativzinspolitik einleiten – und das lieber früher als später. Der Exit sollte dann entschlossener erfolgen. Wir sind schon im sechsten Jahr mit negativen Zinsen. Negativzinsen mögen kurzfristig wirken, sie zerstören aber längerfristig die Grundlagen, auf denen die rationale Ökonomie aufgebaut ist. Die EZB argumentiert aber bis heute, dass die positiven Wirkungen die Nachteile überwiegen.Ich kenne die Argumente und ich kenne die Modelle, auf denen solche Aussagen beruhen. Das alles gilt es zu hinterfragen, vor allem wenn sich der Euroraum nicht mehr in der Krise befindet, und deswegen war es mir so wichtig, dass das Teil der Strategieüberprüfung ist. Es gibt inzwischen mehr und mehr Arbeiten, die das Zusammenspiel aus Banken- und Unternehmenssektor bei Null- und Negativzinsen und viel Liquidität analysieren und die zu dem Ergebnis kommen, dass die Negativzinsen langfristig nicht positiv wirken. Sie senken die Produktivität und schmälern so auf Dauer sogar das Wachstum. Das gilt es weiter zu untersuchen und in der künftigen Geldpolitik zu berücksichtigen. Und Vorbild ist da für Sie die schwedische Riksbank, die Ende 2019 ihr Negativzinsexperiment beendet hat?Das war ein Signal der Riksbank und von Zentralbankchef Stefan Ingves an die Märkte und die Realwirtschaft: Wir glauben, dass in dem Bereich die positiven Effekte die negativen nicht mehr überwiegen. Und es hat sich gezeigt, dass die Finanzmärkte nicht in Panik verfallen sind. Das sollte uns als EZB ermutigen, und wir sollten schauen, ob für uns ein zügiger Ausstieg aus der Negativzinspolitik möglich ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Kommen wir zum zweiten großen Thema für die EZB in diesem Jahr – das ist die Strategieüberprüfung. Sie haben Sympathie dafür anklingen lassen, ein Inflationsziel von 1,5 % zu wählen – was unterhalb der bisherigen Zieldefinition von unter, aber nahe 2 % liegen würde. Warum? Einige Ihrer Kollegen haben sicher dafür ausgesprochen, das Ziel auf exakt 2 % zu setzen, weil das klarer sei und in Einklang mit vielen anderen wichtigen Zentralbanken.Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Wenn unser Zielwert rund 2 % ist, wir bei rund 1,5 % liegen und wir sehen, dass wir, was immer wir auch anstellen, nicht von den 1,5 % auf die 2 % kommen, dann sollten wir es dabei belassen. Wir sollten nicht mit allen Mitteln versuchen, unbedingt schnell die 2 % zu erreichen – insbesondere dann, wenn die Nebenwirkungen gravierend sind. Das war auch eine Reaktion auf andere Geldpolitiker, die gesagt haben, man muss immer die 2 % erreichen, sonst sei die Geldpolitik nicht glaubwürdig. Diese Meinung teile ich nicht. Entscheidend für mich ist: Wir brauchen beim Inflationsziel mehr Flexibilität. Genau mit der Motivation gibt es auch eine Diskussion über ein Toleranzband um ein Punktziel herum. Wäre das etwas, das Sie für sinnvoll erachten würden?Ein solches Toleranzband könnte Sinn machen. Man muss aber abwarten, wie es genau vorgeschlagen wird. Und der Ansatz ist auch nicht ganz ohne Probleme: Angenommen, das Band ginge von 1,5 % bis 2,5 % und die Inflation liegt bei 1,4 % – was dann? Das kann auch wieder Unstetigkeiten schaffen. Ich könnte damit leben, das Ziel bei rund 2 % zu belassen oder auch damit, es auf exakt 2 % zu setzen. Entscheidend ist, dass es genug Flexibilität gibt und wir nicht sklavisch einem bestimmten Ziel hinterherhecheln. Es kommt immer auch auf die Umstände und Gründe an, warum ein Ziel in einem bestimmten Moment nicht erreicht wird. Diskutiert wird auch, das Ziel explizit als symmetrisch zu formulieren – dass also ein Unterschreiten so schlecht ist wie ein Überschreiten. Wie stehen Sie dazu?Die Diskussion über die Symmetrie halte ich für überbewertet. Die Arbeiten zu diesem Thema weisen darauf hin, dass die Einschätzung, ob unser bisheriges Ziel als symmetrisch oder nicht symmetrisch gesehen wurde, empirisch keinen großen Unterschied gemacht hat. Einige Analysen besagen zwar, dass die Inflationserwartungen rund 30 Basispunkte niedriger liegen, weil das Ziel nicht als symmetrisch angesehen wurde. Solche Berechnungen sind aber mit sehr viel Unsicherheit verbunden. Bei den Lohnverhandlungen der Unternehmen und Gewerkschaften spielt die Symmetrie oder Nicht-Symmetrie sicher keine entscheidende Rolle. Intensiv diskutiert wird aktuell auch über die Inflationsmessung selbst, speziell über die Einbeziehung selbst genutzten Wohneigentums in den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Viele Analysen kommen aber zu dem Schluss, dass das kaum einen Unterschied machen würde.Es gibt inzwischen aber auch Arbeitspapiere, die bestehende Schätzverfahren anders aufbauen und die sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass die so gemessene Inflation aktuell deutlich höher wäre. Über den Konjunkturzyklus hinweg wäre der Unterschied nicht so groß. Aber gerade in guten Zeiten, wie wir sie in den vergangenen Jahren hatten, würde die Einbeziehung dazu führen, dass die so gemessene Inflation signifikant höher wäre. Das würde auch stärker die Lebenswirklichkeit vieler Menschen widerspiegeln. EZB-Präsidentin Christine Lagarde will im Zuge der Strategieüberprüfung auch intensiv die Rolle der EZB im Kampf gegen den Klimawandel diskutieren. Besteht nicht die große Gefahr, dass das Erwartungen an die EZB weckt, die sie kaum erfüllen kann?Der Kampf gegen den Klimawandel stellt eine wichtige Herausforderung dieser Zeit dar. Hier aktiv zu werden liegt in unser aller Interesse, auch natürlich der Zentralbanken, da der Klimawandel auch sehr viele Risiken etwa für Investitionen und Finanzmärkte birgt. Aus dem Finanzstabilitätsauftrag heraus muss sichergestellt werden, dass Unsicherheiten von dieser Seite minimiert werden. Was genau in Zukunft gemacht wird, ist noch Teil der Diskussion. Klar ist aber: Im Euroraum wird es wahrscheinlich künftig Klimastresstests für den Finanzsektor geben. Die Niederlande sind hier bereits Vorreiter. Möglicherweise werden Klimastresstests auch Pflichtaufgabe der IWF-Überprüfungen der Finanzsysteme in den einzelnen Ländern, der FSAPs. Und was ist mit einer Bevorzugung grüner Anleihen bei den Anleihekäufen?Eine gezielte Bevorzugung grüner Anleihen sehe ich kritisch, und viele meiner Kollegen teilen diese Skepsis. Das würde nur zu Verzerrungen führen, die ökonomisch nicht gerechtfertigt sind. Es bestünde die große Gefahr, dass es zu einem “Greenwashing” kommt und sogar zu gegenteiligen als den erwünschten Effekten. Ich halte deshalb auch nichts von der Idee einer geringeren Kapitalunterlegung für “grüne” Kredite. Das ist der falsche Weg. Und am Ende könnte ein “grünes QE” auch “QE forever” bedeuten, weil ein Ausstieg aus den Käufen gesellschaftlich keine Akzeptanz mehr finden würde?Das ist sicher eine große Gefahr: Wenn wir unsere Anleihekäufe als Instrument gegen den Klimawandel einsetzen, wird der Ausstieg in der Zukunft nur noch schwerer, wenn nicht unmöglich. Eine letzte Frage: Sie habe wiederholt ein “neokeynesianisches Paradigma” bei der EZB kritisiert und infrage gestellt – konkret eine zu starke kurzfristige Ausrichtung auf die Nachfrageseite und einen zu starken Fokus auf die Finanzmärkte. Halten Sie es für realistisch, dass das im Zuge des Strategiechecks überwunden wird?Ich habe nichts gegen das neokeynesianische Paradigma – wenn es funktioniert! Die Modelle sind vielfach sehr einfach, bilden die Komplexität der Realität möglicherweise nicht mehr korrekt ab und basieren auf Annahmen wie der Philipskurve und dem Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Inflation, die mittlerweile in modernen Gesellschaften in Zweifel stehen. Ich lasse mich gerne überzeugen, wenn ein adaptiertes Modell funktioniert. Ich bin aber dagegen, dass man an möglicherweise teilweise überkommenen Modellen festhält und Instrumente, die nicht oder unzureichend funktionieren, ohne kritisches Hinterfragen einfach weiter anwendet. Hier braucht es einen Paradigmenwechsel. Das Interview führte Mark Schrörs.