IM INTERVIEW: LUDGER KÜHNHARDT, UNIVERSITÄT BONN

"Wir brauchen dringend europäische Parteien"

Gemeinsames EU-Wahlrecht gefordert - Noch größere große Koalition im Europaparlament erwartet - Differenziertere Betrachtung des rechten Lagers nötig

"Wir brauchen dringend europäische Parteien"

Nach den Erfahrungen der jüngsten Europawahl hat der Politikwissenschaftler Ludger Kühnhardt Änderungen im europäischen Wahlrecht gefordert, um das Entstehen europaweit agierender Parteien zu ermöglichen. Man sehe auch in dem derzeitigen machtpolitischen Ringen zwischen EU-Parlament und dem Europäischen Rat, dass europäische Parteien fehlten. Kühnhardt fordert, sich differenzierter mit den Programmen des rechten Lagers auseinanderzusetzen. Die Liberalen sieht er als die eigentlichen Wahlgewinner an. Herr Professor Kühnhardt, welche Erkenntnisse haben Sie aus der Europawahl gezogen?Erstens: Die bisherige große Koalition im EU-Parlament ist abgewählt. Die nächste Koalition wird damit aber aller Voraussicht nach noch größer werden. Zweitens: Das sogenannte rechte Lager hat sich konsolidiert. Es ist ein fester Teil der europäischen Realität geworden und muss künftig weltanschaulich und machtpolitisch viel differenzierter betrachtet werden. Und drittens: Eine Zersplitterung der Politik in Bewegungen findet weiterhin statt. Was meinen Sie damit?Bei der Europawahl sind mehr als 300 Parteien angetreten. Hinzu kommt eine weitere Politisierung in der Bevölkerung. Diese Entwicklung legt ein gravierendes Defizit im bisherigen System offen. Wir müssen jetzt Schritt für Schritt zu einem gemeinsamen europäischen Wahlrecht kommen, das unter anderem die Herausbildung von europäischen Parteien ermöglicht. Bringt das Spitzenkandidaten-Modell nicht schon mehr Demokratie und Transparenz in die EU?Es ist ein guter erster Schritt, aber es ist nicht ausreichend. Man sieht in dem derzeitigen machtpolitischen Ringen zwischen Parlament und Rat ja, was fehlt – und das sind die europäischen Parteien, die als solche auch in der EU wahrgenommen werden. Das Spitzenkandidaten-Modell ist so etwas wie die Dame ohne Unterleib im Zirkus. Sie fordern also transnationale Listen, die es bei dieser Wahl noch nicht gegeben hat, weil es dagegen noch zu viel Widerstand von den traditionellen Parteienfamilien gab, nicht wahr?Das Aufstellen von transnationalen Listen wäre der nächste Schritt. Das parteipolitische Monopol, das noch in den Mitgliedstaaten liegt, konnte bislang nicht aufgebrochen werden. Daher fällt es auch so schwer, das europäische Wahlrecht zu ändern. Das wäre aber der Schlüssel, um eine bessere Verknüpfung zwischen den politischen Akteuren aus den einzelnen Mitgliedstaaten herzustellen. Wir haben jetzt wieder eine Wahl erlebt, die faktisch zum “Europa der Vaterländer”-Konzept der rechten Parteien passt. Es war nur eine Addition nationaler Politiken und Parteien, über die abgestimmt wurde. Wir brauchen in Zukunft dringend europäische Parteien und europäische Listen. Um damit eine weitere Integration zu erreichen und ein “Europa der Vaterländer” zu überwinden, meinen Sie?Nun, dieses Konzept ist ja nicht unseriös oder illegitim. Das “Europa der Vaterländer” stand vor wenigen Jahren noch im Parteiprogramm der CSU. Und es ist auch das Konzept, das der frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle favorisiert hatte. Man muss sich inhaltlich damit auseinandersetzen. Es geht hier immer um eine Balance zwischen Identität und politischer Bestimmung. Ob man die sehr unterschiedlichen Ansätze aus Patriotismus, Nationalismus und Wertkonservatismus, die wir im sogenannten rechten Lager heute in der EU hören, zu einem “Europa der Vaterländer” verbinden kann, wage ich allerdings zu bezweifeln. Warum?Ein solches Europa geht im Endeffekt immer auf Kosten der kleinen Länder und der Schwachen. Was die Europawahlen in diesem Zusammenhang aber auch gezeigt haben, sind die unmittelbaren Rückkopplungen europäischer Wahlen auf die Nationalstaaten. Den rechten Parteien war es in erster Linie ja gar nicht wichtig gewesen, in der EU an die Macht zu kommen, sondern vielmehr, Rückwirkungen in ihren jeweiligen Heimatländern zu erzeugen. Das haben einige von ihnen in nachwirkender Weise geschafft. Welche Rolle spielt in Zukunft denn der Block aus rechtspopulistischen und nationalistischen Kräften im EU-Parlament?Sie sind auch bisher schon Antreiber bei Themen gewesen, die vielen Menschen Angst machen, die aber von den anderen Parteien nicht so richtig ernst genommen wurden. Man muss das rechte Lager aber differenzierter betrachten: Es gibt hier inhaltlich ein unglaublich breites Spektrum zu konstatieren. Man sollte daher auch mit dieser sehr allgemeinen Populismus-Schimpferei über die Rechten aufhören und genauer hinschauen: Zu dem Lager gehören ja moderate und fundamentalistische Euro-Skeptiker, Nationalkonservative und zum Teil auch Rechtsextreme. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner in diesen Gruppen gibt, dann ist es ihre Affinität zum Konzept eines “Europa der Vaterländer”, über das wir schon gesprochen haben. Die künftige Willens- und Mehrheitsbildung im Europaparlament scheint insgesamt komplexer zu werden. Sehen Sie das auch so?Ich bin mir da nicht sicher. Es war auch bisher schon so, dass sich immer wieder einzelne Abgeordnete oder auch ganze Gruppen aus dem Koalitionskonsens der Sozialdemokraten und Christdemokraten ausgeklinkt haben. Die große Koalition im EU-Parlament hatte auch in den vergangenen Jahren immer wieder einmal Liberale oder Grüne zur Mehrheitsbildung benötigt. Und das wird verstärkt auch in den nächsten Jahren der Fall sein. Man wird zudem abwarten müssen, in welchen Fraktionen sich die bislang unter “Sonstige” geführten Abgeordneten einreihen. Das ist ein viel größerer Block als bislang in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Darum sagte ich auch, dass wir es künftig in der EU mit einer ganz großen großen Koalition zu tun bekommen werden. Die Komplexität im Europaparlament haben wir schon immer gehabt. Künftig wird aber auch der Europäische Rat noch politischer werden. Es wird also insgesamt politischer und damit auch interessanter. Die nächsten fünf Jahre könnten spannend werden. Vor allem die Liberalen dürften in dieser Zeit zur Mehrheitsbildung benötigt werden, oder?Ja, eindeutig, auch wenn die ALDE-Gruppe sowohl rechts- als auch linksliberale Kräfte bündelt, die zu einzelnen Themen teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Vergleichen Sie die Liberalen aber auch einmal mit den Grünen, die ja EU-weit auch als Wahlgewinner gefeiert werden: Die Grünen haben das machtpolitische Problem, dass sie im Europäischen Rat nicht vertreten sind, weil sie keine Regierungsbeteiligungen in der EU haben und erst recht keine Ministerpräsidenten stellen. Bei den Liberalen sieht das ja ganz anders aus. Aus ihren Reihen kommt mehr als ein Drittel der Staats- und Regierungschefs. Und im EU-Parlament sind sie nun deutlich stärker geworden. Die Liberalen sind machtpolitisch gesehen der eigentliche Gewinner der Wahl. Sie sind künftig das Zünglein an der Waage. Was bedeutet das Ganze für die inhaltlichen Prioritäten, die in der anstehenden Legislaturperiode in Brüssel gesetzt werden?Das ist eine gute Frage. Meine dringende Empfehlung ist, dass wir nicht nur auf die Zahlen und Köpfe gucken sollten, sondern uns die Programmatik der einzelnen Parteienfamilien etwas näher anschauen sollten. Die Verhandlungen über das künftige Arbeitsprogramm, die direkt nach der Wahl begonnen haben, werden sich sicherlich noch bis in den Herbst hinein hinziehen. Erst wenn es hier ein Ergebnis gibt, wird man auch etwas über die Qualität der Politik sagen können, die wir in den nächsten Jahren in Europa erleben. Es wird allgemein die höhere Wahlbeteiligung gefeiert. Aber wenn man sich die Zahlen einmal etwas genauer anschaut, sieht man, dass die Beteiligung in vielen osteuropäischen Staaten noch bei unter 30 % lag.Aber auch in diesen Ländern sind die Wahlbeteiligungen deutlich gestiegen. Auch in Mittel- und Osteuropa wächst die Politisierung. Das ist ein Indikator für ein neu erwachtes Bewusstsein, dass wir doch in einer Art europäischer Schicksalsgemeinschaft zusammenleben – allen Unterschieden in den Meinungen über die Europäische Union zum Trotz. Das Interview führte Andreas Heitker.