"Wir flirten im Euroraum mit der fiskalischen Dominanz"
Herr Wunsch, wie groß ist Ihre Sorge um die Euro-Wirtschaft? Droht jetzt eine Rezession?
Wir hatten erwartet, dass es Ende 2022, Anfang 2023 eine Rezession geben würde. Die Wirtschaft hat sich aber als widerstandsfähiger erwiesen als gedacht und es gab im Frühjahr sogar kräftiges Wachstum. Jetzt hat sich die Wirtschaft wieder abgeschwächt. Wir haben eine leichte Form von Stagflation. Die Folgen für die Menschen sind aber sehr begrenzt. Es gibt zum Beispiel keine großen Arbeitsplatzverluste. Im Gegenteil: Die Arbeitslosenrate ist sehr gering.
Also kein Grund, die Lage zu dramatisieren?
Wie gesagt, die Wirtschaft ist schwach. Es gibt bislang auch keine überzeugenden Anzeichen für eine rasche Erholung. Es besteht also die Möglichkeit, dass die Wirtschaft noch einige Monate schwach bleibt. Aber die sozialen Kosten sind gering. Es gibt keinen Grund, die Lage zu dramatisieren.
Und wie schätzen Sie die Inflationsentwicklung ein? Die Inflation ist zuletzt stärker als erwartet auf 2,9% gesunken.
Die Inflation lässt nach. Das ist eine sehr positive Nachricht. Wir hatten jetzt sogar zwei Monate mit Inflationsraten unterhalb unserer Prognose. Das ist eine positive Überraschung. Das Inflationsmomentum ist aber immer noch stark, die Inflation ist immer noch zu hoch. Vor allem die Lohnentwicklung ist sehr dynamisch. Es gibt nach wie vor Aufwärtsrisiken für die Inflation gegen Ende unseres Prognosehorizonts im Jahr 2025. Es geht also in die richtige Richtung, aber es ist noch viel zu früh für Entwarnung.
Ist denn bei der Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel die ersehnte Kehrtwende geschafft?
Es gibt jetzt mehr starke Anzeichen dafür, dass bei der Kernrate die Trendwende geschafft ist und sie weiter nachgibt. Die große Frage ist, ob der Abwärtstrend vielleicht bei rund 3% oder so auf Widerstand stößt. Das aktuelle Lohnwachstum steht nicht in Einklang mit einer Rückkehr der Inflation auf 2,0%. Wir müssen jetzt einige Monate warten, um da ein klareres Bild zu bekommen, vielleicht bis Frühjahr oder Mitte 2024.
Das Szenario ist also, dass man bis vielleicht Mitte 2024 abwartet, solange die Leitzinsen unverändert auf dem aktuellen Niveau lässt und dann entscheidet, wie es weitergeht?
Vor zwei oder drei Monaten hätten wir wegen der Sorgen um die Kerninflation vielleicht überlegt, dass es im Dezember oder Januar noch eine Zinserhöhung gibt. Jetzt gab es die positiven Inflationsdaten. Selbst wenn jetzt ein Monat wieder etwas schlechter sein sollte, wären wir immer noch in Einklang mit unseren Prognosen. Ich denke, es ist klar, dass wir die Zinsen im Dezember nicht anheben werden. Darüber hinaus kommt es vor allem auf die Lohnentwicklung an. Ich habe nach aktuellem Stand kein Problem damit, bis Frühjahr oder Mitte 2024 zu warten.
Und was würde in der Zwischenzeit eine weitere Zinserhöhung rechtfertigen? Ein Ölpreisschock zum Beispiel infolge der Eskalation in Nahost?
Wenn die Ölpreise plötzlich deutlich anziehen würden und die Inflation erneut ansteigen würde, könnten wir meines Erachtens nicht einfach hindurchschauen. Das würde zu dem Anstieg der Löhne hinzukommen, und es bestünde die Gefahr, dass sich höhere Löhne und mehr Inflation verfestigen.
An den Märkten wird bereits auf deutliche Zinssenkungen im nächsten Jahr spekuliert – teilweise sogar um 100 Basispunkte. Was sagen Sie dazu?
Ich denke, das ist sehr optimistisch und es erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Zinsen weiter anheben müssen. Wenn man sich die Zinskurve anschaut, mindern solche Spekulationen den restriktiven Grad unserer Geldpolitik. Die Märkte scheinen auch eine weitere Zinserhöhung komplett auszuschließen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber sicher nicht null. Mein Basisszenario ist, dass wir die Zinsen nicht weiter anheben, sondern dass wir die 4,0% beim Einlagenzins länger beibehalten. Aber ich würde definitiv nicht ausschließen, dass wir doch noch mehr tun müssen.
Und was würde eine Zinssenkung rechtfertigen? Was ist, wenn es doch eine Rezession gibt?
Wenn die Lohnentwicklung auf einem Niveau bleibt, das nicht mit den 2,0% vereinbar ist, können wir auch bei einer Rezession leider nichts tun. Bei einem Lohnwachstum von rund 5% werden wir die Zinsen nicht senken – selbst wenn die Wirtschaft leicht schrumpft.
Was ist denn mit dem Argument, dass bei sinkender Inflation und unveränderten Nominalzinsen die Realzinsen steigen – die Geldpolitik also restriktiver wird?
Es stimmt natürlich, dass bei nachlassender Inflation ein Zins von 4,0%, der nicht sehr restriktiv oder sogar gar nicht restriktiv war, als die Inflation höher lag, restriktiver wird. Aber genau das ist es, was wir brauchen, um die Inflation auf 2,0% zu bringen. Das ist kein Argument für eine Zinssenkung. Dafür brauchen wir die Zuversicht, dass wir unser Ziel dauerhaft erreichen.
Und das Ziel sind 2,0% und bleiben 2,0%?
Unser Ziel sind 2,0% und dabei bleibt es. Wir werden keine Diskussion über ein höheres Ziel führen. Eine legitime Diskussion ist aber jene, was die Toleranzmarge um diese 2,0% ist. Wir können die Inflation nicht jedes Jahr bei 2,0% stabilisieren. Wir sollten nicht groß geldpolitisch aktiv werden, weil die Inflation mal ein wenig oberhalb oder unterhalb des Ziels liegt. Wir haben zeitweise ein wenig den Sinn für die Verhältnismäßigkeit verloren. Im Dezember 2021 haben wir bei 5,0% Inflation eine neue Runde QE beschlossen, weil die mittelfristige Projektion 1,7% Inflation vorhersagte.
Wäre das ein Argument für ein Toleranzband um das Ziel von 2,0% herum?
In gewisser Weise haben wir so etwas, weil unser Ziel mittelfristig definiert ist.
Kritiker sagen, die EZB agiere nun nur so hart, weil sie kompensieren wolle, dass sie 2021 die Inflation unterschätzt und die Zinsen zu spät erhöht habe.
Wir waren aus heutiger Sicht etwas spät dran mit Zinserhöhungen. Es gab Warnungen, dass man nicht den Fehler der Zinserhöhungen von 2011 wiederholen dürfe. Es gab deshalb anfangs einen „dovischen bias“. Aber dann haben wir erkannt, dass die Inflation sehr viel hartnäckiger ist als gedacht, und wir haben entschlossen gehandelt. Jetzt haben wir aber keinen „hawkischen bias“ nur wegen der späten Zinserhöhungen. Wir haben jetzt einfach vier bis fünf Jahre mit zu hoher Inflation. Das ist potenziell gefährlich und es wird auch immer kostspieliger, wieder zu den 2,0% zurückzukehren. Ich denke, es besteht inzwischen eine Art Konsens darüber, dass wir lieber zu vorsichtig mit Zinssenkungen sein sollten als zu forsch.
Also lieber zu viel Straffung als zu wenig?
Wenn wir die Zinsen zu lange hoch halten und die Inflation am Ende bis auf 1,7% statt auf 2,0% zurückgeht, wäre das kein großes Thema, solange es der Wirtschaft gut geht. Wenn wir nach einigen Jahren oberhalb des Inflationsziels aber zu früh senken, die Inflation wieder anzieht und wir dann eine Kehrtwende einlegen und nachlegen müssen, wäre das ein großes Problem.
Das zweite große Thema ist die aufgeblähte EZB-Bilanz. Braucht es da mehr Tempo beim Abbau, etwa durch ein früheres Ende der Reinvestitionen im Zuge des Corona-Notfallanleihekaufprogramms PEPP? Derzeit sollen die bis mindestens Ende 2024 weitergehen.
Manchmal muss man sich um Konsistenz bemühen: PEPP war ein Corona-Notfallinstrument. Jetzt gibt es zwar immer noch Corona-Infektionen. Aber das hat keinen Einfluss mehr auf die Wirtschaft. Und die Inflation ist zu hoch und nicht mehr zu niedrig. Wir haben zudem die Reinvestitionen beim APP-Programm beendet. Wenn ich auf unser primäres Mandat schaue, die Inflation auf 2,0% zu bringen, sehe ich absolut keinen Grund, die Reinvestitionen bei PEPP fortzusetzen – abgesehen von der Tatsache, dass wir das versprochen haben. Aber das allein ist kein gutes Argument. Deshalb plädiere ich dafür, die Debatte über ein früheres Ende der PEPP-Reinvestitionen zu führen.
Und was ist mit dem Argument, dass die PEPP-Reinvestitionen die erste Verteidigungslinie sind, falls es zu Problemen bei der geldpolitischen Transmission kommt – also konkret, wenn die Anleiherenditen einiger Euro-Länder übermäßig steigen?
Wenn wir aufgrund dieses Arguments weiterhin reinvestieren und PEPP einsetzen, bedeutet das, dass wir nicht nur mit der fiskalischen Dominanz flirten. Wir sind dann in der fiskalischen Dominanz...
… also in einem Regime, in dem die Geldpolitik die Solvenz des Staates sicherstellt...
… und diese Annahme möchte ich nicht treffen. Es gibt einige Länder in der Eurozone, die zu hohe Schulden und Defizite haben. Das heißt nicht, dass sie vor dem Bankrott stehen. Aber das heißt, dass sie diese Defizite reduzieren müssen und das so schnell wie möglich.
Was wären denn die Folgen bei einem früheren Ende der PEPP-Reinvestitionen, vor allem für die höher verschuldeten Euro-Länder?
Wenn die Märkte der Meinung sind, dass die Haushaltslage einiger Länder nicht tragfähig ist, dann würde ich das lieber jetzt wissen als in einem Jahr oder in zwei Jahren. Die meisten Länder haben Schulden mit langen Laufzeiten und niedrigen Zinssätzen. Man sollte sich also lieber mit dem Problem befassen, wenn es noch beherrschbar ist, und nicht erst, wenn es nicht mehr beherrschbar ist.
Sie sind dann auch kein großer Freund des 2022 eingeführten Transmission Protection Instrument (TPI), oder? Das TPI soll aktiviert werden, um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktentwicklungen entgegenzuwirken, sofern diese die Transmission der Geldpolitik behindern.
Wir flirten im Euroraum mit der fiskalischen Dominanz. Und die Tatsache, dass wir TPI haben, ist ein klares Indiz dafür, dass wir als Zentralbank nicht vollständig von der fiskalischen Situation abstrahieren können. Dennoch stehe ich hinter TPI. Es kann Situationen geben, in denen es Marktentwicklungen gibt, die unangemessen sind und zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden drohen. Da müssen wir intervenieren können – unter klaren Voraussetzungen und mit klaren Regeln. Ich fühle mich aber nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir ein strukturelles Anleiheportfolio brauchen, damit die Haushaltslage einiger Länder nachhaltig ist. Das sollte nicht der Fall sein.
Könnte ein schnellerer Bilanzabbau ein Ersatz für eine weitere Erhöhung sein?
Unser Hauptinstrument ist der Zinssatz. Ich sehe ein früheres Ende der PEPP-Reinvestitionen eher als eine Frage der Wiederherstellung von Puffern und der Konsistenz. Die Inflation ist zu hoch. Die Leitzinsen sind restriktiv ausgerichtet. Da macht es keinen Sinn, weiter zu reinvestieren. Wir sollten also damit aufhören. Und dann gehen alle Instrumente in die gleiche Richtung.
Eine Möglichkeit, die Bilanz schneller zu reduzieren, wäre der aktive Verkauf von Anleihen. Ist das eine Option oder wäre das für die Märkte zu schwer zu verdauen?
Wir sollten jetzt erst einmal die Debatte über ein schnelleres Ende der PEPP-Reinvestitionen führen. Und dann ist da auch noch die Diskussion über das künftige operationale Rahmenwerk. Ich würde nichts ausschließen, auch nicht den Verkauf von Anleihen. Wenn wir das Gefühl haben sollten, dass das das einzige Instrument ist, den Bilanzabbau zu beschleunigen, müssten wir uns das anschauen. Aber das würde auch bedeuten, die aktuellen Verluste auf die Anleihen in unserer Bilanz zu realisieren. Unser Ziel als Zentralbank ist es nicht, Gewinne zu erzielen. Unser Ziel ist Preisstabilität. Aber ein solches Vorgehen wäre nicht leicht zu erklären.
Was halten Sie von dem Vorschlag, die Mindestreserve, die die Banken für Kundeneinlagen bei der EZB halten müssen, zu erhöhen – um die Überschussliquidität im System zu reduzieren und um die möglichen Verluste der Notenbanken, die diese derzeit hoch verzinsen, zu reduzieren? Derzeit liegt der Mindestreservesatz bei 1%.
Ich sehe keine starken Argumente für einen höheren Mindestreservesatz. Wir können unsere Bilanz deutlich reduzieren, um die Überschussliquidität zu reduzieren. Und wir sollten ehrlich sein: Wenn wir die Mindestreserve erhöhen, die derzeit nicht verzinst wird, ist das wie eine Steuer für die Banken. Das können wir machen. Aber sollten wir auch? Die Gefahr ist auch, dass das einen künftigen Einsatz von Anleihekäufen, also Quantitative Easing (QE), ineffektiver macht, wenn die Marktteilnehmer mit so etwas rechnen.
Sie haben die Überprüfung des geldpolitischen Rahmenwerks angesprochen. Im Kern geht es um die Frage, wie und wie viel Liquidität bereitgestellt wird. Was würden Sie favorisieren?
Wir müssen dem Markt bei Bedarf auf flexible Weise Liquidität zur Verfügung stellen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun. Ich würde so viel Raum wie möglich für die Preisfindung innerhalb des Finanzsystems lassen. Wir sollten also versuchen, einen gewissen Spielraum für den Interbankenmarkt zu lassen, damit wir nicht so stark auf dem Markt vertreten sind, dass wir Marktsignale unterdrücken. Das bedeutet, dass ich offener für ein nachfrageorientiertes System bin, bei dem also die Liquidität auf Nachfrage bereitgestellt wird, und zwar wahrscheinlich durch Vollzuteilung oder durch regelmäßige Auktionen, damit die Banken Zugang zu Liquidität haben.
Der Interbankenmarkt liegt brach. Ist eine Wiederbelebung denn realistisch?
Wir sollten es zumindest versuchen. Wir fluten den Markt mit Liquidität, wann immer es eine Krise gibt, und dann sagen wir: Der Markt funktioniert nicht. Ab einem bestimmten Punkt sind wir der Markt. Wir sollten aber nicht „the only game in town“ sein.
Aber von einem strukturellen Anleiheportfolio halten Sie wenig, ja?
Mir ist bislang nicht klar, warum es ein solches Portfolio braucht. Der Beweis ist bislang nicht erbracht. Das wirft auch politische Fragen auf und birgt Probleme. Falls es nötig sein sollte, sollte es so klein wie nur irgendwie möglich sein.
Im Interview: Pierre Wunsch
"Wir flirten mit der fiskalischen Dominanz"
Das EZB-Ratsmitglied über mögliche weitere Zinserhöhungen, einen schnelleren Abbau der Notenbankbilanz und das Verhältnis von Geld- und Fiskalpolitik
Die Lage für die Europäische Zentralbank (EZB) könnte kaum schwerer sein: Einerseits ist die Inflation zwar deutlich gesunken – sie liegt aber immer noch oberhalb des 2-Prozent-Ziels. Andererseits schwächelt die Wirtschaft und es droht eine Rezession. Im Interview ordnet EZB-Ratsmitglied Pierre Wunsch die Lage ein.
Das Interview führte Mark Schrörs.