Im InterviewRobert Holzmann

„Wir haben bei den Leitzinsen das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht“

Marktteilnehmer und Volkswirte rätseln und spekulieren derzeit über den weiteren Zinskurs der EZB. Für Notenbanker Robert Holzmann ist die Sache klar: Die hohe Inflation erfordert weitere spürbare Zinserhöhungen.

„Wir haben bei den Leitzinsen das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht“

Im Interview: Robert Holzmann

Das EZB-Ratsmitglied über die Notwendigkeit weiterer Zinserhöhungen, den Inflationsausblick im Euroraum und die Zukunft der EZB-Bilanz

Angesichts der hohen Inflation hat die EZB seit Juli vergangenen Jahres ihre Leitzinsen um 350 Basispunkte erhöht – so aggressiv wie nie zuvor. Jetzt allerdings ist der weitere Ausblick unsicher – auch wegen der Sorgen um den Bankensektor. EZB-Ratsmitglied Robert Holzmann bezieht nun im Interview klar Position.

„Das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht“

Herr Holzmann, die Finanzmärkte scheinen das jüngste Bankenbeben nach der Pleite zweier US-Banken und der Notrettung der Credit Suisse bereits abgeschüttelt zu haben. Waren die Sorgen vor einer schweren Bankenkrise oder gar einer neuen Weltfinanzkrise also übertrieben?

Die große Sorge vieler Marktteilnehmer war, dass Politik, Aufsicht und Notenbanken womöglich nicht energisch genug handeln würden. In beiden Fällen, in den USA und der Schweiz, wurde aber gut und schnell reagiert. Hätten die Probleme auf Banken im Euroraum übergegriffen, wäre es schwierig geworden. So aber hat das energische Handeln aller Institutionen in den USA und der Schweiz die Märkte wieder beruhigt. Das ist ein großer Erfolg.

Eine große Bankenkrise oder neue Weltfinanzkrise ist also vom Tisch?

Ja, das ist meine feste Überzeugung. Eine große Finanzkrise droht aktuell nicht.

Und was bedeutet das für die Realwirtschaft? Wird das Bankenbeben dadurch realwirtschaftlich zu einem Nicht-Ereignis, oder droht doch ökonomischer Schaden durch die Verschärfung der Finanzierungsbedingungen und eine schwächere Kreditvergabe?

Das ist die große Frage, und da müssen wir nun alle eingehenden Daten sehr genau analysieren. Zweifelsohne werden die Turbulenzen erst einmal dazu führen, dass die Banken bei der Kreditvergabe vorsichtiger werden. Das dürfte auch einige Zeit andauern. Wenn die Unsicherheit weiter abnimmt, dürfte sich das aber auch wieder zurückdrehen. Nach meinen bisherigen Informationen droht kein Einbruch bei der Kreditvergabe oder eine Kreditklemme.

Sie sind also guter Dinge, dass das Basisszenario des EZB-Rats hinsichtlich Wachstum und Inflation vom März im Grunde mehr oder weniger intakt ist?

Ja. Bis zur Sitzung Anfang Mai sind es aber noch drei Wochen. Sollte es zu einer dauerhaften Verschärfung der Finanzierungsbedingungen und zu einer deutlich strikteren Kreditvergabe kommen, könnte das womöglich Einfluss auf die Entscheidung über die Leitzinsen haben. Ich sage explizit könnte, nicht müsste. Denn zugleich ist die Inflation im Euroraum immer noch viel zu hoch. Momentan ist meine Position klar: Wir sollten an eine weitere spürbare Straffung der Geldpolitik denken.

Lassen Sie uns zunächst noch beim Inflationsausblick bleiben: Im März ist die Inflationsrate erneut deutlich auf jetzt 6,9% zurückgegangen. Zugleich ist die Kernrate ohne Energie und Lebensmittel abermals auf ein Rekordhoch von jetzt 5,7% geklettert. Überwiegt die Freude oder die Sorge?

Unser Preisstabilitätsmandat und unser Inflationsziel von 2,0% ist an der Gesamtinflation ausgerichtet. Für unsere Geldpolitik ist aber natürlich auch die Persistenz der Inflation von zentraler Bedeutung. Die Kernrate ist da einer der besten Indikatoren, und der weitere Anstieg der Kernrate – wenngleich nicht ganz unerwartet – ist ganz sicher keine gute Nachricht.

Sie sagen, das kam nicht unerwartet. Warum?

In den vergangenen Monaten haben die Preissetzungen der Unternehmen und auch das Verhalten der Sozialpartner die Inflation tendenziell eher verstärkt. Das zeigt sich jetzt sehr deutlich und kann dazu führen, dass sich der Rückgang der Inflation langsamer vollzieht und sich die Rückkehr zu den 2% weiter verzögert. Das kann dann wiederum auch die Inflationserwartungen beeinflussen. Bislang zeigen die Daten keine Entankerung der Inflationserwartungen an. Aber wenn die Inflation auch im Sommer und Herbst noch derart hoch ist, kann sich das ändern.

Also keine Entwarnung in Sachen Inflationserwartungen und Lohn-Preis-Spirale?

Für eine Entwarnung bei der Inflation ist es viel zu früh. Wir müssen weiter sehr wachsam sein.

Wie wird sich denn die angekündigte Kürzung der Ölproduktion durch die Opec auf den Wachstums- und Inflationsausblick auswirken?

Die Inflation wird dadurch tendenziell ansteigen. Und es ist auch nicht die Opec allein. Mindestens genauso wichtig ist, wie stark die Wirtschaft in China wächst und was das für die Ölnachfrage und den Ölpreis bedeutet. Beide Faktoren werden nicht zu einem Preis- und Inflationsschock führen. Aber sie können die Inflationsraten um einige Zehntelprozentpunkte erhöhen. Das trägt dann dazu bei, dass die Inflation länger hoch bleibt. Und wenn die ölproduzierenden Länder nun dauerhaft versuchen sollten, ihre Preishoheit zu nutzen, um die eigene finanzielle Position zu verbessern, kann das zu einem stetigen Anstieg der Ölpreise führen. Das führt dann zu tendenziell mehr Inflation.

Und was heißt das jetzt alles für die EZB und für die Zinspolitik? Sie haben gesagt, dass sie eine weitere Straffung für nötig erachten. Aber wie viele Zinserhöhungen braucht es noch?

Ich kann die Frage natürlich verstehen, aber Sie werden von mir keine eindeutige Antwort erwarten können. Was ich aber sagen kann: Es gibt im EZB-Rat ein großes gemeinsames Verständnis dafür, dass wir bei den Leitzinsen das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht haben. Natürlich müssen wir jetzt bis zur Mai-Sitzung alle Daten genau analysieren. Aber so wie sich die Lage aktuell darstellt, ist eine weitere Zinserhöhung im Mai sehr wahrscheinlich. Die Höhe selbst ist offen.

Das heißt aber, dass auch erneut 50 Basispunkte möglich sind?

Ein solcher Schritt ist sicher nicht ausgeschlossen. Die Hartnäckigkeit der Inflation spricht aus meiner Sicht derzeit für erneut 50 Basispunkte. Wenn wir jetzt nicht energisch genug handeln, vergrößert sich das Inflationsproblem nur weiter, und wir müssen am Ende noch strikter agieren. Das käme alle teurer zu stehen. Man sollte auch daran denken: Wenn man das Tempo bei den Leitzinserhöhungen einmal zurücknimmt, wird es sehr schwierig, es wieder zu erhöhen. Aber wir müssen uns jetzt noch nicht festlegen.

Vor der Sitzung im März hatten Sie für die nächsten vier Zinssitzungen jeweils Zinserhöhungen um 50 Basispunkte in den Raum gestellt – inklusive des dann erfolgten Schritts. Sind jetzt drei weitere Schritte um 50 Basispunkte noch eine Option oder hat sich das Bild durch das Bankenbeben doch entscheidend verändert, weil verschärfte Finanzierungsbedingungen wie Leitzinserhöhungen wirken?

Derzeit gibt es Anzeichen einer Verschärfung der Finanzierungsbedingungen. Ob das Ende April oder Anfang Mai noch anhält, müssen wir dann sehen – und entsprechend handeln.

Sie sprechen von einem großen gemeinsamen Verständnis im EZB-Rat, dass das Ende der Zinserhöhungen noch nicht erreicht sei. Aber wie groß ist diese Übereinstimmung wirklich? Zuletzt hat sich eher der Eindruck aufgedrängt, dass die Meinungen weiter auseinandergehen, ob und wenn ja wie stark die Leitzinsen noch erhöht werden müssen.

Ja, die Heterogenität der Meinungen ist unter Umständen gewachsen. Das hängt auch damit zusammen, dass die einzelnen Mitglieder des EZB-Rats bei ihren Einschätzungen zunächst auch länderspezifische Bedingungen berücksichtigen. Am Ende werden dann aber alle Daten zusammengeführt, und daraus ergibt sich ein einheitliches Bild für den Euroraum. Das ist die Grundlage für unsere Entscheidung.

Jene Notenbanker, die sich eher vorsichtig äußern, argumentieren mit den Risiken für die Finanzstabilität und sagen, dass ein Risikomanagementansatz auch das berücksichtigen müsse. Ist das angemessen oder müsste ein Risikomanagementansatz der EZB nicht die Gefahren für die Inflation in den Vordergrund stellen?

Man kann da unterschiedlicher Ansicht sein und dann zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Es könnte aber auch sein, dass der gewählte Risikoansatz vom gewünschten Ergebnis beeinflusst ist. Wie auch immer, für mich ist klar: Die wirtschaftliche Lage ist für 2023 nicht grandios, aber sie ist besser als noch vor kurzem erwartet. Zugleich ist die Inflation sehr hartnäckig und der Inflationstrend noch nicht gebrochen. Das spricht meines Erachtens dafür, dass wir weiter entschlossen handeln und die Leitzinsen weiter spürbar anheben müssen, auch über Mai hinaus.

Also im Notfall jetzt lieber die Zinsen ein wenig zu viel anheben als zu wenig?

Die Gefahr, zu wenig zu tun und die Inflation zu perpetuieren, ist meines Erachtens derzeit größer als das Risiko, zu viel zu tun. In dem Fall könnten wir leichter wieder gegensteuern.

Ist das aktuelle Zinsniveau eigentlich schon restriktiv, also bremst es aktiv die Wirtschaft?

Ich würde sagen, dass wir am Beginn eines restriktiven Bereichs sind. Wir sind aber sicher noch nicht weit oberhalb des neutralen Zinses. Lassen Sie mich da eins noch sagen: Was ist die Aufgabe einer Zinserhöhung? Es ist die Aufgabe von Zinserhöhungen, die Nachfrage zu dämpfen, um aus der wirtschaftlichen Entwicklung Luft herauszunehmen. Im Notfall muss auch eine Rezession in Kauf genommen werden, wenn sich die Inflation sonst nicht wieder auf das angestrebte Niveau zurückführen lässt. Das möchte natürlich keiner. Umso wichtiger ist es jetzt, dass auch die Sozialpartner ihrer Verantwortung gerecht werden und die Inflation nicht weiter anheizen.

In Deutschland fordern die Gewerkschaften aktuell teilweise zweistellige Lohnerhöhungen.

Leider sind die Sozialpartner in vielen Fällen noch sehr antagonistisch aufgestellt. Wenn es jetzt zu überzogenen Lohnerhöhungen käme, würde das den Inflationstrend nur noch weiter verlängern. Das muss unbedingt vermieden werden. Wenn nicht, werden wir stärker gegenhalten und die Zinsen deutlicher anheben müssen, um die Inflation so rasch wie möglich wieder zu senken.

Zinssenkungen, auf die an den Märkten teilweise schon spekuliert wird, stehen also nicht auf der Agenda?

Marktteilnehmer haben mitunter viel Fantasie. Aber Zinssenkungen sind auf absehbare Zeit ganz sicher kein Thema.

Im März hat die EZB auch damit begonnen, ihre Bilanz und ihren Anleihebestand zu reduzieren – wenn auch bis Juni erst einmal nur um 15 Mrd. Euro pro Monat. Wird das Tempo danach erhöht, oder sprechen die jüngsten Bankenturbulenzen dafür, bei diesem vorsichtigen Ansatz zu bleiben?

Wir haben uns für diesen vorsichtigen Ansatz entschieden, um zu schauen, wie die Märkte das verdauen. Wir werden das jetzt bis Ende Juni beobachten. Grundsätzlich haben wir alle eine Sympathie für eine schnelle Gangart beim Bilanzabbau. Wir könnten zum Beispiel alle Reinvestitionen aus dem APP-Programm beenden, was das Abbauvolumen von 15 Mrd. Euro auf im Schnitt rund 26 Mrd. Euro erhöhen würde. Wir wollen aber auch in keinem Fall die Finanzmärkte verunsichern. Wenn die derzeit 15 Mrd. Euro pro Monat keine Probleme an den Märkten für private und öffentliche Wertpapiere auslösen, spricht meines Erachtens vieles dafür, das Tempo ab Juli zu erhöhen.

Und wie weit lässt sich die Bilanz überhaupt zurückführen? Vor der Weltfinanzkrise lag die Bilanzsumme unter oder bei 1 Bill. Euro; derzeit sind es immer noch knapp 8 Bill. Euro.

Die Bilanzsumme wird sicher nicht wieder zu den Niveaus wie früher zurückkehren. Man muss ja auch sehen, dass sich die Verbindlichkeiten deutlich erhöht haben. Mit der potenziellen Einführung des digitalen Euro werden die sogar noch zunehmen. Wir sollten die Bilanzsumme meines Erachtens aber so deutlich wie nur irgend möglich zurückführen.

Die andere Frage ist, wie die Liquiditätsversorgung generell künftig gestaltet wird: In einem Regime mit hohen Überschussreserven, bei dem der Leitzins als Untergrenze fungiert, wie es derzeit der Fall ist, oder mit einem nachfragegetriebenen Regime und einer Geldmarktsteuerung über einen Zinskorridor – wie vor den Krisen?

Das ist eine Frage, die uns in den nächsten Monaten sehr intensiv beschäftigen wird. Das Ergebnis ist offen. Ich finde, wir wären gut beraten, zu einem System mit Zinskorridor zurückzukehren. Ein solches System gibt dem Markt mehr Bedeutung.

Das Interview führte Mark Schrörs.

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