Im InterviewGreg Fuzesi, J.P. Morgan

„Wir sind nicht in einer Situation wie in den 1970ern“

Am Donnerstag stehen die EZB-Notenbanker vor der vielleicht schwierigsten Entscheidung seit langem. In jedem Fall war der Ausgang bis zuletzt offen, wie selten. Noch eine Zinserhöhung oder erst einmal eine Zinspause – das ist die Frage.

„Wir sind nicht in einer Situation wie in den 1970ern“

Im Interview: Greg Fuzesi

„Die Situation ist nicht wie in den 1970ern“

Der J.P.-Morgan-Volkswirt über die EZB-Zinssitzung, den Ausblick für die Inflation und die Probleme der deutschen Wirtschaft

Am heutigen Donnerstag stehen die EZB-Notenbanker vor der vielleicht schwierigsten Entscheidung seit langem. In jedem Fall war der Ausgang bis zuletzt offen wie selten. Noch eine Zinserhöhung oder erst einmal eine Zinspause – das ist die Frage. Im Interview ordnet Greg Fuzesi, Euro-Volkswirt bei J.P. Morgan, die Lage ein.

Das Interview führte Mark Schrörs.

Herr Fuzesi, der Ausgang der EZB-Zinssitzung ist vollkommen offen. Denkbar sind eine weitere Zinserhöhung oder eine Zinspause nach neun Zinsanhebungen in Folge. Wenn Sie im EZB-Rat sitzen würden – wie würden Sie entscheiden?

Ich würde dieses Mal pausieren. Und das nicht, weil die Inflation besiegt ist, sondern weil geldpolitisch schon relativ viel gemacht worden ist, weil es Anzeichen gibt, dass die Inflation zurückgeht, und weil es schwieriger geworden ist, sich ein gesichertes Bild von der gesamtwirtschaftlichen Lage zu verschaffen. Ich würde daher auf mehr Daten warten, um die Lage im Oktober besser einzuschätzen.

Eine Zinspause muss also nicht automatisch das Ende des Zinserhöhungszyklus sein?

Überhaupt nicht. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat im Juli gesagt, dass die EZB ihre Entscheidungen allein datenabhängig trifft, und das bedeutet, dass im Zuge jeder Sitzung alle Daten auf den Tisch kommen. In einer Sitzung kann insofern pausiert werden. Und in der nächsten Sitzung kann es sein, dass neuerliche Zinserhöhungen angestoßen werden. Wir erwarten nach einer Zinspause am Donnerstag eine weitere Zinserhöhung im Oktober. Aber das hängt sehr stark davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Natürlich hat die EZB kein Wachstumsziel. Das Mandat ist Preisstabilität. Aber wenn sich die Konjunktur abschwächt, hat das Auswirkungen auf die Inflation.

Noch ist die Inflation mit 5,3% sehr hoch und vor allem die Kernrate ohne Energie und Lebensmittel mit ebenfalls 5,3% hält sich sehr hartnäckig. Wie schätzen Sie die Inflationsaussichten ein?

Die Inflation geht endlich in die richtige Richtung. Unsere Prognose sieht ähnlich aus wie jene der EZB. Die Inflation geht im Jahr 2025 Richtung 2%. Die Kernrate wird aktuell vor allem durch zwei Effekte künstlich hochgehalten: Das betrifft erstens Basiseffekte, ausgelöst durch die staatlichen Eingriffe im vergangenen Jahr, in Deutschland etwa das 9-Euro-Ticket. Der zweite Effekt ist etwas technischer. Wegen der Pandemie gab es große Veränderungen bei den Gewichten im Warenkorb, vor allem bei den Pauschalreisen. Das treibt aktuell die Inflation durch einen Kalkulationseffekt, wird aber nach der Tourismussaison wegfallen. Im September könnte die Kernrate auf 4,5% sinken. Und dann kommt es darauf an, wie sich die anderen Inflationstreiber entwickeln.

Das heißt konkret?

Da sind natürlich die Energiepreise zu nennen. Die sind an den Märkten für Gas und Strom bereits deutlich gesunken und das wird sich im Zeitablauf auch verstärkt auf die Kernpreise auswirken. Auch bei den Lieferketten ist der ganz große Druck raus. Dann kommt es wirklich darauf an, wie sich der Arbeitsmarkt und die Löhne entwickeln. Bei den Löhnen sehen wir aber bereits eine gewisse Stabilisierung des Lohnwachstums, wie von der EZB angenommen.

Zuletzt haben die Energiepreise aber wieder etwas angezogen. Einige befürchten eine zweite Inflationswelle wie in den 1970er Jahren. Die Sorge teilen Sie nicht?

Um einen richtig großen Inflationsschock zu bekommen, müsste der Ölpreis viel stärker steigen, als das bisher der Fall ist. Das erwarten wir nicht. Und die Inflationserwartungen sind vor allem mittelfristig gut verankert. Wir sind nicht einer Situation wie in den 1970er Jahren.

Das 2-Prozent-Ziel ist also erreichbar und wird auch erreicht? Es gibt ja durchaus die Diskussion, dass sich die Inflation wegen struktureller Gründe eher bei 2,5% oder höher einpendelt und die EZB das zumindest informell tolerieren könnte.

Die 2% können erreicht werden und sie müssen erreicht werden. Wenn die Zentralbanken 2,5% tolerieren würden, würde sich alles nach oben anpassen. Dann hätte man große Schwierigkeiten und auch schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem. Es besteht immer die Möglichkeit, dass man das Ziel überarbeitet, aber der Kontext ist sehr wichtig. Wenn das Ziel auf 3% angehoben wird, nur weil die 2% nicht erreicht werden können, ist das ganz sicher keine optimale Begründung.

Kommen wir zur Konjunktur. Wie besorgt sind Sie über die Euro-Wirtschaft und das, was wir in den vergangenen Wochen an Stimmungsindikatoren gesehen haben? Die Rezessionsgefahr scheint zuzunehmen.

Ich bin schon besorgt, aber die Situation ist etwas verwirrend. Für mich ist nicht eindeutig, weshalb sich die Daten so schnell abgeschwächt haben. Der Einkaufsmanagerindex, der für mich immer noch der beste Wachstumsindikator ist, hat sich bis April stark erholt. Das schien damit zusammenzuhängen, dass die Energiepreise gesunken waren, dass sich die Lage bei den Lieferketten verbessert hatte und dass es immer noch Aufholpotenzial bei den Dienstleistern gab. Aber seit April geht es steil bergab, obwohl zum Beispiel in Deutschland die Auftragsbestände in der Industrie immer noch sehr hoch sind. Es gibt auch keine großen Anzeichen für neue Lieferkettenprobleme. Natürlich gibt es Druck durch die Zinsanhebungen. Auch China ist schwächer, aber dafür stehen die USA besser dar. Ich habe schon Schwierigkeiten zu erklären, warum der Einkaufsmanagerindex auf einem Niveau ist, der für die Euro-Wirtschaft bestenfalls Stagnation signalisiert und für Deutschland sogar negatives Wachstum.

Auch im zweiten Quartal waren die Stimmungsindikatoren schwach und trotzdem ist die Euro-Wirtschaft gewachsen, wenn auch nur geringfügig. Könnte es sein, dass gerade Ähnliches passiert?

Wie gesagt, der Einkaufsmanagerindex war im April stark und ist erst danach gefallen. Es ist denkbar, dass er aktuell durch eine Mischung verschiedener Faktoren gedrückt wird. Grundsätzlich müsste sich der Indikator in den nächsten zwei, drei Monaten aber eigentlich verbessern. Und deswegen erwarte ich auch noch einen weiteren Zinsschritt der EZB. Die EZB hat aber Zeit für eine Pause, um das besser einzuschätzen.

Sehr viele Sorgen rund um die Euro-Konjunktur haben mit der deutschen Wirtschaft zu tun. Ist Deutschland schon wieder „der kranke Mann Europas“? Und was wäre wirtschaftspolitisch geboten, um dem entgegenzusteuern?

Deutschland sieht ohne Frage im Moment besonders schwach aus. Anhand des Einkaufsmanagerindexes steht Europa momentan wirtschaftlich am unteren Ende weltweit und Deutschland am unteren Ende Europas. Was es jetzt aber nicht braucht, ist ein breiter Stimulus, also eine Konjunkturspritze für die Gesamtwirtschaft. Schließlich gibt es immer noch ein Inflationsproblem. Wenn es darum geht, dass die Unsicherheit zugenommen hat, muss die Politik vor allem diese Unsicherheit wieder beseitigen.

Hat Deutschland denn ein Standort- und Wettbewerbsproblem?

Wenn man sich die Produktionszahlen anschaut, kann man schon den Eindruck haben, dass es ein Standortproblem gibt. Nehmen Sie zum Beispiel die energieintensive Produktion. Da hat sich wenig verbessert, obwohl die Energiepreise wieder gesunken sind. Jetzt sind die Energiepreise natürlich immer noch höher als vor der Krise, aber nicht mehr auf den absoluten Höchstständen aus dem vergangenen Jahr. Die Lage ist aber kompliziert und es ist noch zu früh, große Schlüsse zu ziehen.

Aber große Stimuli wären in jedem Fall kontraproduktiv in Sachen Inflation?

Ja, die Geldpolitik will die Nachfrage schwächen, damit sich Lohn- und Preissetzung beruhigen und die Inflation wieder auf 2% sinkt. Wenn dann ein großer Wirtschaftsschub von der Fiskalseite käme, würde das genau in die andere Richtung wirken. Die EZB will aber auch, dass diese Abschwächung der Nachfrage geordnet passiert, also moderates Wachstum und nicht unbedingt Rezession. Das ist das Gleichgewicht, das man finden muss, und das wird nicht einfach. Deswegen erwarte ich jetzt auch zunächst eine Zinspause der EZB.