IM INTERVIEW: KLAAS KNOT

"Wir sollten als Zentralbanker bescheidener agieren"

Der niederländische Notenbankchef über die nächsten Schritte der EZB, die Reform der Währungsunion, die Zukunft der Geldpolitik und die Draghi-Nachfolge

"Wir sollten als Zentralbanker bescheidener agieren"

– Herr Knot, wenn Sie die aktuelle Lage der Euro-Wirtschaft betrachten – würden Sie sagen, das Glas ist halb voll oder halb leer?Das Glas ist definitiv halb voll. Die Wirtschaft im Euroraum erlebt eine breit angelegte Expansion und der Aufschwung ist zunehmend selbsttragend. Was wir aktuell erleben, ist eine natürliche Abschwächung des Wachstums gegenüber dem Höhepunkt des Konjunkturzyklus 2017. Die Nachfrage aus dem Ausland lässt etwas nach. Aber die inländische Nachfrage ist weiter sehr stark. Das liegt vor allem an der sich verbessernden Lage am Arbeitsmarkt. Immer mehr Menschen kommen in Arbeit. Das erhöht die verfügbaren Einkommen und stützt das Konsumwachstum.- Sie sind also nicht allzu besorgt über die jüngste Abschwächung?Die Wachstumsraten im vergangenen Jahr waren nicht nachhaltig. Die jetzigen Raten sind mehr in Einklang mit dem Potenzialwachstum – und sogar immer noch darüber. Es gibt keinen Grund, die Situation zu dramatisieren. Natürlich gibt es Risiken, vor allem von außerhalb der Eurozone. Aber die interne Widerstandsfähigkeit der Euro-Wirtschaft ist ausreichend, so dass externe Schocks keine verheerenden Folgen haben sollten.- Das wohl größte globale Risiko ist derzeit der globale Handelsstreit. Könnte eine Eskalation die Euro-Wirtschaft aus der Spur bringen?Bislang ist der Handelsstreit primär ein Streit zwischen den USA und China. Es ist nicht ganz klar, wie eine Zuspitzung dieses Konflikts die Euro-Wirtschaft treffen würde. Es könnte auch zur Umleitung von Handelsströmen kommen, von der, am Ende, die Eurozone profitieren könnte. Eine Zuspitzung zu einem weltweiten Handelsstreit würde dennoch zu geringerem Wachstum führen. Der neue Protektionismus und der Trend zur De-Globalisierung – wozu ich auch den Brexit zähle – sind schlechte Nachrichten für das globale Wachstumspotenzial. Unsere Volkswirtschaften würden weniger produktiv und weniger effizient. Der Effekt auf die Inflation ist aber weniger eindeutig.- Das heißt?Handelsprotektionismus bedeutet einen negativen Angebotsschock. Ein solcher Schock reduziert das Wachstum, führt aber zu höherer Inflation. Wenn das aber auch zu einer breiteren Vertrauenskrise führen würde, wäre das ein zeitgleicher negativer Nachfrageschock. Das könnte die Inflation drücken. Der Gesamteffekt auf die Inflation ist also nicht eindeutig. Das werden wir genau beobachten müssen.- Sie haben den Brexit angesprochen. Wie besorgt sind Sie, dass es keine Einigung zwischen Großbritannien und der EU geben wird?Das Risiko, dass es keinen Deal gibt, war immer präsent. Je näher die Deadline rückt, desto größer wird der Druck. Ich hoffe aber weiter, dass am Ende die Vernunft obsiegt. Alle Beteiligten müssen ein Selbstinteresse daran haben, einen harten Brexit zu vermeiden. Großbritannien bleibt geografisch ein Teil Europas. Und Geografie bleibt ein zentraler Faktor bei den Wirtschaftsbeziehungen.- Für politisches Aufsehen sorgt derzeit auch Italien. Rom plant deutlich höhere Fiskaldefizite. Wie sollte die EU reagieren?Es gibt berechtigte Zweifel, ob die Budgetpläne vereinbar sind mit der italienischen Verfassung und den EU-Regeln. Das muss aber von den Hütern solcher Regeln festgestellt werden – in letzterem Fall die EU-Kommission. Als Ökonom würde ich hinzufügen, dass die Pläne sehr wenige Maßnahmen enthalten, die die langfristigen Herausforderungen Italiens adressieren würden. Italien muss sein Wachstumspotenzial freisetzen. Ich kann nicht erkennen, wie diese Pläne dazu beitragen würden.- Könnte Italien mit seiner Politik die Eurozone als Ganzes in eine Krise wie 2011 und 2012 stürzen?Ich will nicht spekulieren. Ich beobachte aber, dass die Ansteckung anderer Mitgliedstaaten aktuell viel geringer ist als damals. Europa ist vorangekommen: Es wurden Sicherheitsnetze geschaffen, in vielen Ländern wurden die Ungleichgewichte reduziert und die Wirtschaft ist widerstandsfähiger. Die Situation heute unterscheidet sich also ganz erheblich von jener 2011 und 2012.- Und solange es keine Ansteckung anderer Länder gibt, gibt es keinen Grund für die EZB zu handeln.Als EZB haben wir die Aufgabe, unserem Mandat gerecht zu werden, und das lautet, Preisstabilität zu sichern.- Punkt?Punkt! Die EZB ist nicht dafür da, rein nationale Politiken zu korrigieren oder zu kompensieren. Entscheidend für uns ist der Inflationsausblick für den Euroraum, und dieser scheint bislang nicht tangiert.- Was die Inflation betrifft, ist der EZB-Rat weiter zuversichtlich, dass mittelfristig das Ziel von unter, aber nahe 2 % erreicht wird?Unsere Zuversicht mit Blick auf den Inflationsausblick ist unverändert. Solange die Wirtschaft über Potenzial wächst, nimmt die Kapazitätsauslastung weiter zu. Schon jetzt gibt es auf einzelnen Arbeitsmärkten Engpässe. Das Lohnwachstum zieht langsam an. Die Gesamtinflation liegt seit einigen Monaten oberhalb unserer Definition von Preisstabilität. Das einzige, was wir bislang nicht gesehen haben, sind überzeugende Anzeichen eines Anstiegs der Kerninflation. Die hohe und steigende Kapazitätsauslastung an den Güter- und Arbeitsmärkten sollte dagegen in der nahen Zukunft für zunehmenden Preisdruck sorgen.- Im September ist die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel sogar leicht von 1,0 % auf 0,9 % gesunken. Eine Enttäuschung?Das war etwas enttäuschend. Aber wenn Sie sich die EZB-Projektionen anschauen, sehen Sie, dass für den erwarteten Anstieg der Kernrate die kommenden Quartale in 2018 und 2019 entscheidend sind. Bislang gibt es keinen Grund, diesen Ausblick fundamental infrage zu stellen.- Und damit auch keinen Grund, den Kurs zu ändern? Die Nettoanleihekäufe (Quantitative Easing, QE) sollen Ende 2018 auslaufen, die Leitzinsen aber bis weit ins Jahr 2019 unverändert bleiben.Unsere Geldpolitik ist auf einem Weg der vorsichtigen Normalisierung, wie ich es nennen würde. Die Wirtschaft im Euroraum braucht heute nicht mehr die gleiche geldpolitische Unterstützung, wie sie noch vor einigen Jahren für nötig erachtet wurde. Deswegen wickeln wir unser Anleihekaufprogramm nun ab. Wir erwarten, dass die Nettokäufe zum Jahresende auslaufen. Von dem Moment an sollten wir uns wieder stärker auf unsere Leitzinsen fokussieren. Wir sollten dann ein wenig mehr Klarheit bieten, was wir im Sinn haben. Generell gilt: Die Richtung der Reise ist klar, das Tempo aber ist flexibel und wird datenabhängig sein.- Besteht nicht die Gefahr, dass die EZB zu spät handelt?Eine vorsichtige Normalisierung stellt eine heikle, aber angemessene Balance zwischen zwei Risiken dar: Auf der einen Seite gibt es das Risiko, hinter die Kurve zu fallen. Der Höhepunkt des Zyklus liegt hinter uns und die Inflation liegt seit einigen Monaten oberhalb der von uns mittelfristig angestrebten unter, aber nahe 2 %. Auf der anderen Seite gibt es weiter ein Risiko, dass die Übertragung der steigenden Kapazitätsauslastung auf die Inflation schwächer sein wird als erwartet. In der Vergangenheit mussten wir deshalb unsere Inflationsprojektionen mehrfach nach unten revidieren. Wir würden gerne mehr Dynamik in der zugrunde liegenden Inflation sehen.- Ihr Kollege Ewald Nowotny plädiert für eine schnellere Normalisierung und sagt, er stehe damit im EZB-Rat nicht allein. Das zielt vor allem auf den Ausblick, dass die Leitzinsen “mindestens über den Sommer 2019” nicht erhöht werden. Wie sehen Sie das?Man sollte nicht vergessen: Unsere Forward Guidance für die Leitzinsen ist eine Erwartung. Das heißt, es gibt rund um diese zentrale Erwartung andere mögliche Ergebnisse, in beide Richtungen. Wenn sich in den nächsten Monaten unser Basisszenario bestätigt, könnten wir erneut über das Tempo unserer Normalisierung nachdenken und könnten nicht ganz so lange warten müssen. Alles hängt davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Wir sind gut beraten, in den nächsten Monaten abzuwarten, was aus den externen Risiken wird, bevor wir mehr Orientierung zu den Zinsen geben.- Wie viel Orientierung kann und sollte die EZB überhaupt geben?Wir werden nie in der Lage sein, präzise Termine anzukündigen. Die Wirtschaft folgt keinem geradlinigen Kurs. Wenn uns die Krise eines gelehrt hat, dann doch das, dass wir weniger wissen über das Funktionieren unserer Volkswirtschaften, als wir dachten. Wir sollten deswegen auch als Zentralbanker mit mehr Bescheidenheit agieren. Das gilt auch für unsere Kommunikation – für die Art, wie und wann wir bestimmte Ziele zu erreichen erwarten.- Fühlen Sie sich denn dann überhaupt noch wohl mit Ihrem Tun?Die Unsicherheit ist Teil unseres Geschäfts. Als Zentralbanker sollte man sich deshalb immer Flexibilität bewahren und sich nicht übermäßig festlegen oder selbst binden.- Ihre Kollegen Benoît Coeuré und Peter Praet sagen, dass die EZB künftig auch mehr Orientierung geben muss, wie es nach einer ersten Zinserhöhung weitergehen könnte. Sehen Sie das auch so?Die zweite Zinserhöhung dürfte genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sein als die erste Zinserhöhung. Zwei Zinserhöhungen könnten den Eindruck eines Musters schaffen. Es ist aber jetzt zu früh, darüber zu spekulieren. Den Rest des Jahres 2018 sollten wir nutzen, um unser Kaufprogramm abzuwickeln und um besser zu verstehen, wie sich die globalen Risiken entwickeln. Dann können wir überlegen, in welcher Form wir die Forward Guidance fortentwickeln und wie konkret wir sein wollen. Da gibt es mehrere Optionen. Wir könnten etwas sagen über die mögliche Zahl der Zinserhöhungen pro Jahr. Wir könnten es machen wie die Fed. Eine Frage ist auch, ob die Negativzinsen etwas Besonderes sind und ob wir diese so schnell wie möglich loswerden wollen. Aber bevor ich das mit Ihnen diskutiere, ziehe ich es vor, das zuerst mit meinen Kollegen im EZB-Rat zu diskutieren.- Wäre es auch eine Option, einen Zinspfad zu kommunizieren?Diese Idee haben wir noch nicht diskutiert. Ich würde generell nichts ausschließen, ich bin offen. Wir würden uns dann aber erst genauer die Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen anschauen müssen.- Früher galt bei der EZB die Maxime, sich nie vorab festzulegen.Das war in der Welt vor Forward Guidance. Aber es ist auch eine legitime Frage, ob und für wie lange wir damit weitermachen sollten.- Für wie lange kann die EZB überhaupt an Null- und Negativzinsen festhalten, bevor das zu einem Problem für die Banken oder die Finanzstabilität wird?Zumindest die Banken, die ich am besten kenne, sind derzeit extrem profitabel. Grundsätzlich aber gilt, je länger die sehr niedrigen Zinsen anhalten, desto größer werden die unbeabsichtigten Nebeneffekte. Es gibt ein erhebliches Risiko der Fehlallokation von Ressourcen, der “Zombifizierung” von Unternehmen und der Überbewertung von Vermögenswerten. Das Produktivitätswachstum und die Rate des Potenzialwachstums werden dann negativ beeinflusst. Wir sollten nicht länger an der sehr expansiven Politik festhalten als unbedingt notwendig.- Jetzt steht zunächst die Entscheidung zu den Reinvestitionen an. Auch nach dem Ende der Nettoanleihekäufe sollen auslaufende Papiere reinvestiert werden. Geht es da um einen rein technischen Prozess oder auch um zusätzliche geldpolitische Impulse?Der Spielraum für zusätzliche geldpolitische Impulse in der Phase der Reinvestitionen ist sehr begrenzt. Letztendlich bleiben der Kapitalschlüssel und die Marktneutralität unsere Grundpfeiler. Eine Frage ist aber sicher, wie lange wir diese Reinvestitionen durchführen wollen. Die Markterwartungen sind aktuell zwischen zwei und drei Jahren. Im Moment habe ich keinen Anlass, mich mit solchen Erwartungen unwohl zu fühlen.- Und ab 2019 gilt dann der neu berechnete EZB-Kapitalschlüssel? Italiens Anteil dürfte dann etwas sinken, der deutsche steigen.Im Prinzip würde ich sagen, dass der neue Kapitalschlüssel dann unser neuer Anker werden sollte. Das müssen wir aber noch im Detail diskutieren, auch was irgendwelche Herausforderungen betrifft, die der Übergang vom altem zum neuen Schlüssel mit sich bringen könnte.- Braucht es künftig mehr Flexibilität bei den Reinvestitionen? Diskutiert wird etwa, dass auslaufende Papiere nicht mehr immer im gleichen Land oder im gleichen Sektor angelegt werden müssen.Es gibt bereits jetzt Flexibilität. Das gilt insbesondere für die Frage, wie schnell reinvestiert werden muss, um Klippeneffekte zu vermeiden. Ich bin bislang nicht überzeugt, dass es mehr Flexibilität braucht, als aktuell bereits vorhanden ist. Wenn es aber tatsächlich irgendein Problem gibt, werden wir eine geeignete Lösung finden.- Würde es reichen, darüber erst bei der Dezember-Sitzung zu entscheiden – oder wäre es besser, das bereits im Oktober zu tun?Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten auch im Oktober erste Absichten kommunizieren und im Dezember finale Entscheidungen treffen.- Die Hürde für eine Verlängerung von QE liegt aber hoch, richtig?Es bräuchte dafür schon einen schweren Schock, der zu einer signifikanten Abweichung vom Basisszenario führt. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich nichts dergleichen am Horizont.- Welche Rolle spielt die Person des EZB-Präsidenten für den Ausstieg und die Normalisierung der Geldpolitik? EZB-Präsident Mario Draghi scheidet Ende 2019 aus.Man sollte diese Frage nicht überbewerten. Der EZB-Rat besteht aus 25 Mitgliedern. Die meisten unserer Entscheidungen sind datengetrieben. Der Spielraum rund um die jetzt eingeleitete vorsichtige Normalisierung ist auch nicht besonders groß – weder in die eine noch in die andere Richtung. Wir sollten uns von solchen Diskussionen nicht ablenken lassen.- Sie werden auch immer mal wieder als Kandidat gehandelt. Fühlen Sie sich dadurch geehrt?Das ist für mich nicht besonders relevant. In jedem Fall wird vor den Europa-Wahlen im Mai 2019 nichts passieren. Alles, was bis dahin darüber gesagt und geschrieben wird, erzeugt nur unnötigen Lärm. Ich habe nicht vor, selbst dazu beizutragen.- Wer auch immer der nächste EZB-Präsident sein wird – werden Instrumente wie QE und Negativzinsen in Zukunft ganz normale Instrumente für die EZB sein?Grundsätzlich und aus rechtlicher Sicht stehen diese Instrumente zur Verfügung. Die Hürde, zu diesen Nichtstandardinstrumenten zu greifen, sollte aber recht hoch liegen. Breite Anleihekäufe oder Negativzinsen sollten nur bei einer wirklichen Gefahr deflationärer Spiralen zum Einsatz kommen. Die jüngste Krise war sicher auch kein Standard. Nicht jede künftige Rezession wird so schlimm sein wie jene nach der Weltfinanzkrise. Wir haben die Widerstandsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und das Fundament der Währungsunion gestärkt – mit dem ESM, mit der Bankenunion. Nach der globalen Finanzkrise musste die Geldpolitik fast die ganze Last allein schultern. Das sollte sich auch nicht wiederholen.- Glauben Sie, dass die EZB die Zinsen genug angehoben haben wird vor dem nächsten Abschwung, um dann allein mit der Zinspolitik gegensteuern zu können?Was heißt genug? Und wann kommt die nächste Rezession? Es ist aber sicher eine berechtige Sorge, dass wir beim nächsten Abschwung nicht über so viel geldpolitische Munition verfügen, wie wir gerne haben würden. Das ist ein weiteres Argument dafür, nicht länger als unbedingt nötig an der sehr expansiven Geldpolitik festzuhalten – wenn auch nicht das Hauptargument. Das ist die anhaltende Verbesserung der Kapazitätsauslastung.- Auch die Fiskalpolitik verfügt aktuell kaum über Spielraum.Es ist sehr enttäuschend, dass die Politiker die günstigen Zeiten nicht besser genutzt haben. Das gilt für Strukturreformen, aber auch für den Schuldenabbau. Wenn die Mitgliedstaaten allein die Zufallsgewinne aus unseren sehr niedrigen Zinsen zur fiskalischen Konsolidierung genutzt hätten, würden die öffentlichen Finanzen heute viel besser aussehen. Das ist eine verpasste Gelegenheit, für die wir teuer bezahlen werden, falls der nächste Abschwung früher kommen sollte als derzeit erwartet.- Als vertane Chance gilt auch schon das Jahr 2018 – mit Blick auf die Reform der Währungsunion.Das Funktionieren der Währungsunion würde von mehr finanzieller Integration ohne Frage profitieren. In dem Zusammenhang glaube ich, die Frage der öffentlichen Risikoteilung zwischen den Euro-Mitgliedstaaten ist ein wenig überbewertet. In erfolgreichen Föderationen wie den USA ist die private Risikoteilung über die Bundesstaatengrenzen hinweg rund fünfmal so wichtig wie die öffentliche. Wir sollten uns deshalb auf die Vollendung der Bankenunion und die Schaffung der Kapitalmarktunion konzentrieren. Am Ende des Tages braucht es auch eine gemeinsame EU-Einlagensicherung.- Zurück zur Geldpolitik: Sehen Sie nach der Weltfinanzkrise eine Notwendigkeit, Mandate, Strategien und Ziele der Zentralbanken auf den Prüfstand zu stellen? Vor allem in der US-Notenbank tobt eine Debatte, etwa über das 2-Prozent-Inflationsziel.Ich sehe keinen Grund, unsere Definition von Preisstabilität zu ändern. Es gibt überzeugende Argumente, warum wir mittelfristig unter, aber nahe 2 % anstreben. Eine Anhebung oder auch eine Absenkung würde mit erheblichen Nachteilen einhergehen, einschließlich, aber nicht nur für unsere Glaubwürdigkeit. Mit ein wenig Sorge sehe ich aber, dass wir bei der Interpretationen des “mittelfristig” etwas Flexibilität verloren haben. Dieses Konzept war in den Anfangstagen der EZB bewusst offengelassen worden. Heutzutage wird häufig eine Verbindung hergestellt zum Ende des EZB-Projektionszeitraums von ungefähr zwei Jahren. Das suggeriert auch einen Grad an Kontrollierbarkeit der Inflation, der wirklich nicht gegeben ist. Die Projektionen des Mitarbeiterstabs sind ein wichtiger Input bei der Beurteilung der Frage, inwieweit wir unser Mandat erfüllen, aber sie können nicht unsere Einschätzung ersetzen. Eine ausreichende Flexibilität bei dem mittelfristigen Zeithorizont würde uns auch erlauben, Finanzstabilitätssorgen stärker in Betracht zu ziehen.- Einige Experten plädieren für ein eigenes Mandat Finanzstabilität.Ein separates Mandat wäre nicht der angemessene Weg. Unser Mandat sollte begrenzt sein auf die Preisstabilität. Wir sollten unser Preisstabilitätsmandat aber so interpretieren, dass es Finanzstabilität umfasst. Letztendlich kann finanzielle Instabilität enorme Auswirkungen auf die Preisstabilität haben. Finanzcrashs führen zu deflationären Entwicklungen. Wir können und wir sollten nicht ignorieren, wie viel Wert es hat, solche zu verhindern.- In den Krisen gab es viel Kritik an den Zentralbanken. Sehen Sie die Gefahr, dass die Ära der Unabhängigkeit zu Ende gehen könnte?Ich wäre extrem besorgt, wenn die Unabhängigkeit der EZB und der nationalen Zentralbanken zur Disposition gestellt würde. Wenn die EZB nicht unabhängig gewesen wäre, hätten die Maßnahmen in den vergangenen Jahren sicher destabilisierende Effekte auf die Inflationserwartungen gehabt – mit womöglich gravierenden Folgen. Schauen Sie sich auch die Entwicklungen in Argentinien oder der Türkei an. Das mag weit weg und nicht vergleichbar erscheinen. Es legt aber die Konsequenzen offen, wenn die Unabhängigkeit der Zentralbank untergraben wird. Ich zähle darauf, dass die Entscheider in Europa schlau genug sind, diesen Weg nicht zu gehen.- Die Kritik rührt nicht zuletzt aus der Einschätzung, dass die Zentralbanken die Ungleichheit verstärkt haben, weil etwa durch QE vor allem die Reichen profitierten.Die Effekte der sehr expansiven Geldpolitik auf die Einkommensverteilung sind sehr viel facettenreicher als es nur der Blick auf die Vermögenspreise suggeriert. Unsere Geldpolitik hat zum Beispiel auch zu einem erheblichen Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt. Auch die Häuserpreise für die Mittelklasse sind gestiegen. Es gibt stets Gewinner und Verlierer einer bestimmten Geldpolitik. Das ist aber bei den Zinsen nicht anders als bei den Nichtstandardmaßnahmen. Generell gilt: Der beste Schutz für die verfügbaren Einkommen der Menschen ist die Sicherung von Preisstabilität – und das ist genau das, was wir tun!—-Das Interview führte Mark Schrörs.