GASTBEITRAG

Wird es Europa 2017 schaffen oder zerbrechen?

Börsen-Zeitung, 17.2.2017 Mitte 1946 hielt Winston Churchill eine berühmte Rede in Zürich, in der er das vom Krieg zerrissene Europa aufforderte, aus der Asche aufzuerstehen. Sein Appell war womöglich der Vorbote für die Gründung der Europäischen...

Wird es Europa 2017 schaffen oder zerbrechen?

Mitte 1946 hielt Winston Churchill eine berühmte Rede in Zürich, in der er das vom Krieg zerrissene Europa aufforderte, aus der Asche aufzuerstehen. Sein Appell war womöglich der Vorbote für die Gründung der Europäischen Union. Er deutete jedoch an, dass das Vereinigte Königreich außerhalb der entstehenden “Vereinigten Staaten von Europa” bleiben sollte – eine Prophezeiung, die merkwürdig treffend erscheint angesichts der Brexit-Entscheidung des Landes. Heute haben viele das Gefühl, dass Europa erneut an einem Wendepunkt in seiner Geschichte angelangt ist. Die bevorstehenden Aufgaben sind ganz andere als vor 70 Jahren, aber genauso anspruchsvoll.Die zahlreichen Herausforderungen, vor denen Europa steht, ergeben ein düsteres Bild. Das schwache Wachstum, die hohe Verschuldung und die strukturellen Unterschiede zwischen den europäischen Kernländern und der sogenannten Peripherie sind beängstigend genug. Diese Probleme werden noch verstärkt durch die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die Europäische Union zu verlassen, und durch den Aufstieg populistischer, antieuropäischer Kräfte in der Politik. Diese Entwicklung ist zweifellos eine Bedrohung für das europäische Projekt. Alle gegen BrüsselFangen wir mit der politischen Lage an. Der Aufstieg der populistischen Parteien auf dem gesamten Kontinent (die “Alternative für Deutschland” hierzulande oder der “Front National” in Frankreich, um nur einige zu nennen) oder ihre Machtübernahme in Ungarn, Polen und Griechenland haben einen gemeinsamen Nenner. Egal, ob sie rechts oder links ausgerichtet sind: Alle sind sie gegen Brüssel. Die europäischen Institutionen werden als undemokratisch wahrgenommen und stehen unter dem Verdacht, einen zügellosen Kapitalismus zu fördern sowie die Migrations- und Sicherheitsprobleme nicht in den Griff zu bekommen.Das Aufkommen des Populismus ist jedoch nicht auf Europa beschränkt, wie die Präsidentschaftswahl in den USA gezeigt hat. Populisten haben im Allgemeinen eine binäre Sicht der Dinge und unterscheiden zwischen dem “wahren Volk” – das Wort “Populismus” leitet sich ab von dem lateinischen Wort “populus” (das Volk) – und “dem Rest”, wobei dieser Begriff für kosmopolitische, supranationale und oftmals stillschweigende Unterstützer einer liberalen Weltordnung steht.Die Gründe hierfür sind auf allen Ebenen zu finden, von der supranationalen bis hin zur individuellen. Erstens fehlt dem europäischen Projekt ein “Traum”, ein Ziel. Das Argument, dass es seit 1945 zum Frieden beigetragen habe, scheint heute kaum mehr ins Gewicht zu fallen. Der “Abstieg” Frankreichs als Alter Ego in der deutsch-französischen Achse verschafft Deutschland zu viel Gewicht. Das Land will aber wegen seiner Geschichte nur widerstrebend eine Führungsrolle einnehmen.Zweitens: Da die Mitglieder der Europäischen Kommission nicht gewählt werden, wird ihre demokratische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Vielen europäischen Bürokraten in hohen Positionen fehlt es an Ausstrahlungskraft oder einer emotionalen Dimension, die populistische Politiker zweifellos besitzen. Und drittens ist der Aufstieg starker Männer wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdogan oder Donald Trump, von denen die meisten Europa eine strukturelle Schwäche bescheinigen, auch nicht hilfreich. Etablierte unter DruckPopulistische Parteien haben jedoch noch einen langen Weg vor sich. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass beispielsweise Marine Le Pen vom Front National als Siegerin aus der Präsidentschaftswahl in Frankreich hervorgeht. In Deutschland wird die etablierte politische Ordnung höchstwahrscheinlich bestehen bleiben. Angela Merkel scheint sich im kommenden Herbst halten zu können, wenn auch möglicherweise nur in einer erneuten großen Koalition, die weiterhin einen klaren Kurs behindert. In Italien ist es alles andere als sicher, dass der Partito Democratico (PD) des früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi gegenüber der Protestpartei Movimento Cinque Stelle (“Fünf Sterne”) bei vorgezogenen Wahlen das Nachsehen hätte. Der wahrscheinlichste Ausgang ist eine Koalition zwischen der PD und der Partei des früheren Premiers Silvio Berlusconi. In den Niederlanden werden Populisten aller Wahrscheinlichkeit Wähleranteile gewinnen, und die Partei von Geert Wilders hat gute Aussichten, bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen auf sich zu vereinen. Er wird aber voraussichtlich nicht genug Unterstützung von den etablierten Parteien erhalten, um die Macht übernehmen zu können.Ungeachtet der politischen Landschaft scheint die wirtschaftliche Lage besser zu sein als allgemein angenommen. Bis jetzt hatte die vom Brexit ausgelöste Unsicherheit keine Auswirkungen auf die Wirtschaft. Für 2017 wird wieder ein Wachstum von rund 1.5 % erwartet. Es gibt jedoch nach wie vor große Herausforderungen: Die Kreditvergabe in Europa hat immer noch nicht angezogen. Hauptgrund hierfür ist die unvollendete Bankenunion. Außerdem stehen hinter der Kapitalstärke der Banken, insbesondere der italienischen, weiterhin große Fragezeichen.Derzeit findet ein stiller “Bank Run” – Kapitalströme von Süd- nach Nordeuropa, vor allem nach Deutschland – statt, der Ausdruck eines allgemeinen Vertrauensverlusts in die sogenannten Peripherieländer der Eurozone ist (siehe Grafik). Eine solche Situation kann der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht gefallen. Gestalten statt VerwaltenFassen wir zusammen: Vieles, was uns derzeit bewegt, ist der Effekt einer Politik, die sich mehr aufs Verwalten als auf einen Wettstreit der Ideen und deren Umsetzung fokussiert hat. Die Antwort hierauf darf aber nicht eine allgemeine Malaise sein. Sie muss lauten: Einmischung! Wir müssen drei Dinge von unseren Politikern einfordern – bei jeder Wahl und bei jeder Gelegenheit:- Erstens: Stellen Sie sich den aktuellen Verteilungsfragen – und entwickeln Sie tragfähige Alternativen! Wahlgeschenke an einzelne Gruppen sind keine Lösung.- Zweitens: Setzen Sie sich ein für ein Europa, das die Macht – und die Legitimität durch Direktwahl – hat, um gegenüber autoritären oder protektionistischen Staatsoberhäuptern mit einer klaren Haltung aufzutreten.- Drittens – und diese Forderung geht an die Topmanager in Unternehmen und Banken: Bekennen Sie sich zu einem Wirtschaftsmodell, von dem alle profitieren – nicht nur ein bestimmter Teil.Schalten wir also um vom Verwalten auf das Gestalten. Auf diese Weise erhalten wir Freiheit und Wohlstand in Europa auch unter schwierigen Bedingungen. Und Churchills 1946er-Rede wird nicht wieder eine Vision, sondern bleibt Wirklichkeit.—-Christophe Bernard, Chefstratege und Vorsitzender des Anlageausschusses des Bankhauses Vontobel