LEITARTIKEL

Zeitbombe Asylpolitik

Gerade einmal 100 Tage ist die neu aufgelegte große Koalition im Amt - und schon scheint sie fast wieder am Ende. Dabei streiten sich nicht Schwarz und Rot, sondern die Schwesterparteien CDU und CSU. Beide haben sich so entzweit, dass sogar die...

Zeitbombe Asylpolitik

Gerade einmal 100 Tage ist die neu aufgelegte große Koalition im Amt – und schon scheint sie fast wieder am Ende. Dabei streiten sich nicht Schwarz und Rot, sondern die Schwesterparteien CDU und CSU. Beide haben sich so entzweit, dass sogar die Fraktionsgemeinschaft und somit der Bestand der gesamten Regierung auf dem Spiel steht. Der vermeintliche Grund ist zur Nebensache geworden: die inhaltliche Auseinandersetzung über den bislang nur Eingeweihten bekannten Masterplan von Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer zur Asylpolitik. In erster Linie geht es um die Hoheit über die Stammtische vor der bayerischen Landtagswahl im Oktober, was in einem Machtkampf zwischen Seehofer im Verbund mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gegen die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel gipfelt. Die Bayern schienen sich dabei zeitweise einer breiten Unterstützung in der CDU sicher. Tieferes Nachdenken und Krisensitzungen über das Wochenende haben auf beiden Seiten zur Einsicht geführt, dass ein Bruch keiner der Unionsparteien hilft. Das Wählervolk schaut verwundert dem Spektakel zwischen den Unionsschwestern zu. Die Umfragewerte verfallen. Gedämpft hat das Aufbegehren aus Bayern auch eine schlichte Kalkulation der CDU. Die große Koalition könnte auch ohne die CSU und ihre drei Minister in Berlin regieren. Es fehlen nur wenige Stimmen zur Mehrheit im Bundestag. Das Modell einer Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten war schon eine charmante Variante, bevor die große Koalition wieder zusammenkam. An Neuwahlen kann auch die schwache SPD kein Interesse haben. Zur Einsicht mag in München auch beigetragen habe, dass der indirekt angedrohte Antritt der CDU bei den bayerischen Landtagswahlen, der bei einem Ende des Regionalprinzips möglich wäre, die CSU sicher Stimmen kosten würde. Es rächt sich nun, dass die Union im vergangenen Sommer im Streit über eine Obergrenze der Zuwanderung vor der Bundestagswahl keine grundsätzliche Lösung gefunden hat. Der Konflikt wurde nur notdürftig zugedeckt. Mit einer Zeitbombe in der Aktentasche regiert es sich freilich schlecht. Seehofer trifft durchaus Volkes Empfinden mit den Fragen: Wer darf nach Deutschland kommen, und wie viele dürfen es sein? Wer darf an der Grenze abgewiesen werden? Diese Fragen sind unbeantwortet. Deutschland allein kann nicht die Flüchtlingsprobleme der ganzen Welt lösen. Viele Menschen empfinden politischen Stillstand, nachdem sich die von Merkel angestrebte solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa nicht realisieren lässt. Sie wenden sich ab, wählen nicht mehr oder die AfD. Dass diese Partei, die sich in Umfragen wachsenden Zuspruchs erfreut, im Bundestag wenig konstruktiv agiert und vorrangig provoziert, steht auf einem anderen Blatt. Auch jetzt nach der Krisenwoche ist der Konflikt zwischen CDU und CSU keineswegs gelöst. Merkel hat nur Zeit gewonnen bis nach dem EU-Gipfel Ende Juni. Die Kanzlerin braucht in Brüssel das Einlenken der europäischen Partnerländer, wenn sie hierzulande ihren Kurs halten will, die Flüchtlingsfrage europäisch zu lösen, um sich nicht der neuen Mode nationaler Alleingänge in Europa anzuschließen. Ein kleiner Pluspunkt für Merkel ist, dass Seehofer und die CSU sich auch nach dem Gipfel noch gesprächsbereit zeigen und der Innenminister den angedrohten automatischen Alleingang entschärft hat. In der EU aber schwächt der unionsinterne Streit Merkel. Sie muss gegen ihre Überzeugung bilaterale Abkommen etwa mit Griechenland oder Italien über die Rücknahmen dort eingereister Flüchtlinge erreichen, will sie den Frieden in ihrer Regierung wahren. Der Streit stärkt sie aber auch ein Stück weit, weil den europäischen Partnern die Brisanz der Lage in der deutschen Regierung gewahr sein sollte. Wackelt die stärkste Wirtschaftsmacht, hilft dies keinem in Europa. Bei aller Emotionalität in der Flüchtlingsfrage, die den Wunsch nach nationalem Durchgriff gegen europäische Untätigkeit antreibt: In einem geeinten Europa reicht es nicht, Länder mit ungünstiger geografischer Lage mit gemeinsamen Problemen allein zu lassen. Flüchtlinge aus Afrika wollen nicht nach Italien oder Griechenland, sondern nach Europa. Die Sicherung der Außengrenzen ist damit eine gemeinsame Aufgabe. Nur so lässt sich auch die innere Freizügigkeit aufrechterhalten. Offene Grenzen sind nicht nur eine essenzielle Frage für die deutsche Wirtschaft. Der Wohlstand der Bürger – nicht nur der in Deutschland, sondern der in ganz Europa – hängt daran.—–Von Angela WefersDer Streit zwischen CSU und CDU ist blamabel. In der Asylpolitik ist eine grundlegende Einigung nötig. Offene Grenzen sind zentral für die Wirtschaft. —–