Zentralbanken sollten politische Entscheidungen nicht antizipieren
Zentralbanken sollten politische Entscheidungen nicht antizipieren
Sollte die EZB ihr Inflationsziel mittelfristig wirklich auf 3% erhöhen? Wenn der ehemalige EZB-Vizepräsident, Vítor Constâncio, wie im Interview in der Börsen-Zeitung vom 13. September dafür argumentiert, sollte man es nicht leichtfertig abtun. Dennoch sprechen gewichtige Argumente dagegen. Zunächst zu seinen drei Gründen: (1) Der strukturelle Inflationsdruck steigt. (2) Die Zinssätze würden bei höheren Inflationsraten seltener bis zur Nullzinsgrenze sinken. (3) Die EZB hätte bei höheren Zinsniveaus mehr Spielraum, mit kräftigen Zinssenkungen eine Rezession zu verhindern.
Glaubwürdigkeitsverlust
Constâncios zweiter und dritter Grund sind plausibel. Zusätzlich erleichtern höhere Inflationsniveaus strukturelle Anpassungen innerhalb einer Gesellschaft, die aufgrund von nominalen Lohnrigiditäten oft schwierig sind. In schrumpfenden Sektoren würden so verschleierte Reallohnkürzungen möglich und stärker steigende Löhne in Wachstumsbranchen. Dies würde den Strukturwandel durch eine Reallokation von Arbeitskräften und Investitionen beschleunigen. Diese Argumente waren aber bereits bei der letzten Strategieüberprüfung der EZB bekannt.
Ihnen steht der Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber, den Zentralbanken erleiden, wenn sie plötzlich höhere Inflationsraten anvisieren. Ein neues Inflationsziel lässt sich nur schlecht verankern, wenn seine Wahl arbiträr oder opportunistisch erscheint.
Entscheidend für die Akzeptanz eines höheren Inflationsziels ist daher Constâncios erstes Argument, dass der strukturelle Inflationsdruck zunähme. Gemeint ist damit meist, dass Deglobalisierung, demografischer Wandel und Klimawandel unvermeidbar zu steigenden Preisen führten.
Tatsächlich sänken Produktivität und Kosteneffizienz, wenn wir günstige Importe durch eigene Produktion ersetzten. Auch lassen sich steigende Inflationsraten in Ländern beobachten, in denen der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung gefallen ist. Dass die Bekämpfung des Klimawandels teuer ist, dürfte nicht kontrovers sein, selbst wenn sich die Annahme steigender Lebensmittelpreise schon seit Thomas Malthus nicht bewahrheitet hat. In allen drei Fällen hängt das Ausmaß des resultierenden Inflationsdrucks aber stark von politischen Entscheidungen ab. Diese sollte eine Zentralbank bei der Formulierung ihres Inflationsziels nicht vorwegnehmen.
Beeinflussbare Demografie
Selbst wenn eine geringere Abhängigkeit von China politisch gewünscht sein mag, bedeutet das nicht automatisch weniger Außenhandel. Intensivere Handelsbeziehungen zu Ländern wie den USA sind durchaus möglich, und auch innerhalb der EU ist das Potenzial engerer Handelsbeziehungen vor allem im Dienstleistungsbereich enorm. Würde es genutzt, könnten viele Preise sogar fallen.
Die preistreibenden Effekte des demografischen Wandels lassen sich mittels des Renteneintrittsalters, der Zuwanderung, der Steuerpolitik und anderer Beschäftigungsanreize beeinflussen. Die inflationären Effekte des Kampfs gegen den Klimawandel hängen davon ab, wie konsequent und wann entsprechende Absichten umgesetzt werden. Bisherige Maßnahmen geben diesbezüglich wenig Anlass zu Optimismus.
Ob höhere Steuern auf fossile Brennstoffe die Inflation erhöhen, hängt davon ab, wie die Steuereinnahmen verwendet würden. Würde mit ihnen beispielsweise die Mehrwertsteuer gesenkt, müsste das Preisniveau nicht steigen. Außerdem könnten die Preise anderer Energieträger bei deutlich stärkerer und damit effizienterer Produktion fallen.
Technologische Entwicklungen wie die künstliche Intelligenz könnten einen preissenkenden Produktivitätsschub sogar noch verstärken. Folglich werden strukturelle Faktoren auf der Angebotsseite der Wirtschaft in den kommenden Jahren vor allem dann zu höherem Inflationsdruck führen, wenn die Wirtschaftspolitik nicht schnell genug oder unangemessen reagiert.
Antizipieren sollten Zentralbanken politische Entscheidungen oder deren Ausbleiben nicht, indem sie ihre Inflationsziele voreilig erhöhen. Sie machen sich sonst zum Spielball der Politik, die dadurch verleitet wird, zukünftig weitere Argumente für noch höhere Inflationsziele zu finden. Zentralbanker sollten vor allem die mittelfristigen Inflationserwartungen nicht erodieren. Es sind diese Erwartungen, die das Verhalten der Menschen steuern und dazu beitragen, ob die Inflation verankert bleibt oder nicht.
Beispiel Schweiz
So konnte beispielsweise die Schweiz in den letzten beiden Jahren den Inflationsanstieg auch deshalb auf 3,5% begrenzen, weil ihre Bevölkerung eine starke Präferenz für niedrige Inflationsraten hat und nicht auf starken Lohnerhöhungen beharrt hat. Struktureller Inflationsdruck ist nicht gottgegeben, sondern meist menschengemacht. Es ist daher nicht hilfreich zu suggerieren, dass im Euroraum Inflationsraten von 3% strukturell unvermeidbar sind.