Zurück im Ausnahmezustand

Von Detlef Fechtner, Brüssel Börsen-Zeitung, 23.3.2016 Die Frage, die Brüssel diesen ganzen Dienstag hinweg begleitet, lautet: War es das jetzt - oder geht der schreckliche Alptraum noch weiter? Spätestens um kurz nach neun Uhr vormittags, als sich...

Zurück im Ausnahmezustand

Von Detlef Fechtner, BrüsselDie Frage, die Brüssel diesen ganzen Dienstag hinweg begleitet, lautet: War es das jetzt – oder geht der schreckliche Alptraum noch weiter? Spätestens um kurz nach neun Uhr vormittags, als sich die Nachricht von der Explosion in der Metro-Station Maelbeek verbreitet, ist klar, dass der Anschlag morgens am Flughafen in Zaventem keine Einzeltat war. Binnen kürzester Zeit laufen immer neue Gerüchte von weiteren Gewalttaten um – etwa an der Place Schuman, wo es angeblich eine weitere Explosion gegeben haben soll. Oder auch an Simonis oder am Sablon, was sich anschließend als falsch herausstellt. Die Spekulationen sind Ausdruck der extremen Verunsicherung der Menschen in Brüssel an diesem “schwarzen Dienstag” – und der nackten Angst davor, dass es an der nächsten Ecke knallen könnte.Angesichts der akuten Bedrohung ist schon am frühen Vormittag nicht mehr an einen normalen Geschäftsbetrieb zu denken. Als ich um halb zehn das Großraumbüro einer Versicherungsgesellschaft unweit des Europaviertels betrete, sitzt keiner mehr an seinem Arbeitsplatz. Alle telefonieren mit Angehörigen oder Freunden oder stehen in kleinen Gruppen zusammen und besprechen die Lage. Und natürlich schießen auch hier Spekulationen ins Kraut. “Das kommt immer näher”, warnt ein Angestellter, “erst Maelbeek, dann Schuman, dann müsste jetzt Merode das nächste Ziel sein.” Andere im Raum pflichten ihm bei, obwohl es eigentlich ja keinen Grund für die Annahme gibt, dass die Attentäter der Metro-Fahrroute folgen. Aber es geht in diesem Moment ja auch nicht um Plausibilität, sondern um Nervosität – und die ist groß. Steigende NervositätSie nimmt sogar noch zu, als im weiteren Tagesablauf die Zahl der Todesopfer im Stundentakt nach oben korrigiert wird. Und als Eltern aufgefordert werden, zunächst einmal zu Hause zu bleiben und ihre Kinder nicht aus der Schule abzuholen. Oder als Belgiens Außenminister Didier Reynders einräumen muss, die Regierung befürchte, dass noch potenzielle Gewalttäter in Brüssel auf freiem Fuß seien. Und als Meldungen die Runde machen, dass die meisten Beschäftigten der Atomkraftwerke in Tihange und Doel die Anlagen verlassen haben.Die Verunsicherung ist auch deshalb so stark, weil sie die Menschen in der Stadt ausgerechnet in einem Moment trifft, in dem sie erstmals seit langem gehofft haben, wieder zurück in die Normalität zu kehren. Denn nach der Verhaftung von Salah Abdeslam, des Hauptverdächtigen der Pariser Anschläge, vorigen Freitag waren viele in Brüssel erleichtert und zuversichtlich, dass die latente Bedrohung nun endlich vorbei sei. Die ernüchternde Erkenntnis fünf Tage später lautet: Das war eine Illusion. Statt zur Normalität kehrt Brüssel nun wieder zur Sicherheitsstufe 4 zurück – in den Ausnahmezustand. Mit Kontrollen an den Landesgrenzen, mit der Stilllegung des öffentlichen Verkehrs in der Hauptstadt, mit der verstärkten Präsenz des Militärs, mit geschlossenen Museen und Kneipen.Während Terrorexperten im Ausland zur Einschätzung neigen, die aktuellen Anschläge seien ein Revancheakt auf die Festnahme Abdeslams, gibt sich die belgische Regierung in diesem Punkt eher skeptisch. Es lägen keine Hinweise auf einen unmittelbaren Zusammenhang vor, erklärt Premierminister Charles Michel. Zugleich deutet er an, dass die Anschläge für die Regierung nicht völlig überraschend kommen. In der Tat hatte sie nach der Festnahme Abdeslams wiederholt bekräftigt, dass die Probleme damit nicht beseitigt seien. Allem Anschein nach ahnte die Regierung also, dass es noch andere zu Attentaten bereite Terroristen in Belgien gab und gibt.Genau deshalb werden in den nächsten Tagen wieder die Diskussionen darüber aufleben, inwieweit es Zufall ist oder nicht, dass Belgien immer wieder Drehkreuz oder Schauplatz des islamistischen Terrors in Europa ist. Belgiens Regierung muss sich abermals die Frage stellen lassen, ob sie – etwa im Brüsseler Stadtteil Molenbeek – eine Stadtentwicklung zugelassen hat, die die Radikalisierung junger Menschen begünstigt und Terroristen Unterschlupf und Rückzugsmöglichkeit bietet. Das – wie kaum ein anderer Staat – territorial zersplitterte Land muss sich zudem den Vorwurf gefallen lassen, dass das Nebeneinander von Regionen, Sprachgemeinschaften, Provinzen und mächtigen Kommunen eine wirkungsvolle und schlagkräftige Verwaltung, Strafermittlung und Gefahrenprävention wohl kaum mehr zulässt.Zugleich erhöht sich durch die jüngsten Anschläge der politische Druck auf die Europäische Union, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu verstärken. Vor allem ausländische Medien haben das Attentat in der Metrostation Maelbeek, die gerade einmal drei Gehminuten von den Hauptgebäuden der EU-Kommission und des EU-Rats entfernt liegt, für ihre Zuschauer direkt als “Anschlag auf die EU” übersetzt. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sondierte die Situation gestern Vormittag umgehend telefonisch mit Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und dem EU-Ratsvorsitzenden Mark Rutte. Junckers Sprecher bemühte sich derweil, jeden Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EU-Behörde zu zerstreuen. Die tägliche Mittagspressekonferenz wurde daher nicht abgesagt. “Wir fühlen uns sicher und tun unsere Arbeit”, lautete die fast trotzige Ansage. Aber selbst sie konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem gestrigen Tag auch die EU wieder in den Ausnahmezustand zurückkehrt. ——–Belgiens Regierung muss sich fragen lassen, ob sie Entwicklungen zuge- lassen hat, die eine Radikalisierung begünstigen.——-