IM INTERVIEW: THOMAS STRAUBHAAR, HWWI

"Zuzugsbegrenzung kostet viel Wohlstand"

Der Ökonom sorgt sich um seine Schweizer Heimat

"Zuzugsbegrenzung kostet viel Wohlstand"

Die Schweizer haben sich mit knapper Mehrheit für eine Begrenzung des Zuzugs von Ausländern ausgesprochen. Für den gebürtigen Schweizer Thomas Straubhaar (56), seit April 2005 und noch bis September an der Spitze des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), könnten sich Schweizer Unternehmen künftig schwertun, Führungskräfte im Ausland zu finden.- Herr Professor Straubhaar, die Schweizer haben dafür votiert, dass der Zuzug von EU-Bürgern beschränkt werden soll. Sie stammen aus dem Kanton Bern, leben aber seit 22 Jahren in Deutschland. Wie beurteilen Sie die Entscheidung Ihrer Landsleute?Die Entscheidung berührt mich sehr negativ und reflektiert ein Bild der Schweiz, mit dem ich mich nicht identifiziere. Die Schweiz ist das weltoffenste Land Europas, hat mit die meisten Ausländer gemessen an der Gesamtbevölkerung. Ich kann verstehen, dass die Eidgenossen darüber besorgt sind, weil zwischen der Jahrhundertwende und heute die Schweizer Bevölkerung enorm gewachsen ist. In gut zehn Jahren hat sie um fast eine Million von 7,2 Millionen auf 8,1 Millionen zugenommen. Das Gefühl eines Dichte-Stresses machte sich bei vielen Schweizern breit. Es bildete den Nährboden einer dumpfen Sorge, dass Agrarland verbaut und der Lebensraum beengt würde. Nun aber wird für alle Zuwanderer das Signal ausgesendet, dass sie eigentlich nicht willkommen sind, dass sie Probleme verursachen. Das wird den Willen zur Integration beeinträchtigen und aus Ausländern Gäste machen, deren Loyalität zur Schweiz nicht sehr groß sein wird.- Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung in der Schweiz. Schweizer Firmen müssen sich Fachkräfte im Ausland suchen. Wie ist der Bürgerentscheid vor diesem Hintergrund zu bewerten?Die Schweiz ist für ihre starke Exportwirtschaft vom freien Zugang zu den Märkten anderer Staaten abhängig und hat entgegen allen Vorurteilen von der Zuwanderung der Fach- und Führungskräfte enorm profitiert. Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen, die im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens in die Schweiz zogen, verfügten über einen tertiären Bildungsabschluss. Die Zuwanderung von Fach- und Führungskräften erhöhte das Wachstumspotenzial und verbesserte die Beschäftigungsmöglichkeiten auch und gerade der weniger qualifizierten Schweizer Arbeitskräfte. So stieg die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 2002 und 2012 um insgesamt über eine halbe Million. Weder konnten Verdrängungseffekte noch negative Lohneffekte der Zuwanderung nachgewiesen werden. Lediglich bei höher qualifizierten Arbeitskräften war ein verstärkter Wettbewerbsdruck vor allem durch deutsche Fach- und Führungskräfte festzustellen.- Die EU-Kommission warnt vor möglicherweise gravierenden Auswirkungen des Entscheids. Welche ökonomischen Folgen sind denkbar für die Schweiz?Kurzfristig wird gar nichts passieren, weil die Änderungen erst in drei Jahren umgesetzt sein müssen. Entscheidend wird sein, ob alle bilateralen Verträge mit der EU neu verhandelt werden oder nur die Personenfreizügigkeit. Mittel- und langfristig wird es aber für Höherqualifizierte und Jüngere nicht mehr so attraktiv sein, in die Schweiz zu ziehen. Das wird die Schweizer Volkswirtschaft sehr viel Wohlstand kosten.- Und wie realistisch sind diese Folgen?Die Schweizer können nur hoffen, dass sich in der EU die Vernünftigen durchsetzen, die anerkennen, dass nicht nur die Schweiz auf Europa, sondern auch Europa auf die Schweiz angewiesen ist. Dass man deswegen die Situation nicht eskalieren lassen wird, sondern versucht, für beide Seiten gesichtswahrende Kompromisse zu finden. Setzen sich in der EU die Scharfmacher durch, beginnen schwierige Zeiten, weil Konfrontation für beide Seiten und besonders für die Schweiz als kleines Land teuer wird.- Es gibt viele Deutsche, die in der Schweiz arbeiten. Deutsche spielen auch in der Führung großer Schweizer Konzerne wie ABB, Nestlé, Sulzer oder UBS eine gewichtige Rolle. Ist der deutsche Einfluss auf die Schweizer Wirtschaft zu groß?Viele Eidgenossen empfinden das sicher so. In letzter Zeit strömten netto jährlich mehr als 30 000 Deutsche in die Schweiz – zwischen 2005 und 2010 insgesamt über 130 000. Und die waren nicht dumm, sondern richtig gut gebildet. Die Schweizer fühlen sich von den so viel sprach- und wortgewandteren Deutschen provoziert, die in den Führungsetagen Platz nahmen und im Bildungsbereich oder dem Gesundheitswesen das Wort ergriffen. Oft fehlte es der ausländischen Elite am Verständnis typischer Helvetismen. Beispielsweise war das Milizwesen in der Vergangenheit eine Selbstverständlichkeit. Heute werden von ausländischen Unternehmensleitungen nur noch die Kosten gesehen, wenn Schweizer Kaderangehörige wochenlang im Militärdienst stecken.- Könnte der Bürgerentscheid zu einem deutlichen Rückgang von Führungskräften und Talenten aus Deutschland in Schweizer Unternehmen führen?Ja, das befürchte ich – nicht kurz-, aber längerfristig. Gerade weil auch der Familiennachzug beschränkt werden soll, werden Fach- und Führungskräfte nicht ohne ihre Angehörigen in die Schweiz umziehen wollen. Ebenso wird es für jüngere Menschen weniger attraktiv sein, nach Helvetien zu gehen, und wenn, werden sie sich kaum wirklich integrieren wollen, weil sie ja nie sicher sein können, dass sie immer bleiben können.- Der Entscheid ist als Protest gegen ökonomische Freizügigkeit und damit gegen von der EU vertretene Prinzipien zu verstehen. Ängste und Ärger existieren in anderen Ländern Europas ebenfalls. Fehlen politische Antworten?Ja. Man muss frühzeitig erkennen, dass Migration insgesamt zwar positiv ist und für die Gesamtwirtschaft zu mehr Wachstum und höherer Beschäftigung führt, aber für den Einzelfall zu Anpassungsproblemen, Verdrängung und negativen Ballungseffekten führen kann. Hier muss mit staatlichen Umverteilungsmaßnahmen entgegengewirkt werden. Man muss den vielen Gewinnern etwas vom Gewinn wegnehmen, um damit die wenigen Verlierer für ihren Verlust zu entschädigen.- Europa hat bei Europäern einen schweren Stand, wie auch der Plan des EU-Landes Großbritannien zeigt, Kompetenzen aus Brüssel zu repatriieren und 2017 über die Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. Wohin führt der Weg: Renationalisierung und Protektionismus statt Integration in Europa?Ja. Und was mich wirklich erschreckt, sind die Reaktionen aus Deutschland. Wenn ich mich auf Twitter und in den Kommentarspalten der Nachrichtenseiten umsehe, sind 80 % der deutschen Kommentatoren begeistert darüber, was gerade in der Schweiz passiert. Sie schreiben, es werde endlich mal Zeit, dass jemand aufsteht gegenüber Brüssel und dem europäischen Zentralismus. So etwas kann sehr schnell eine Eigendynamik entwickeln, und man muss wirklich aufpassen, dass nicht plötzlich auch andere Europäer die Personenfreizügigkeit in Frage stellen.—-Die Fragen stellte Carsten Steevens.