NOTIERT IN TOKIO

Zwischen Rentenlücke und Power Harassment

Eigentlich wollte sich Regierungschef Shinzo Abe an diesem Wochenende im Glanz des G20-Gipfels in Osaka sonnen und dann mit frisch gestärkter Popularität die Oberhauswahl im Juli ohne große Anstrengung gewinnen. Doch es kam anders. Aus heiterem...

Zwischen Rentenlücke und Power Harassment

Eigentlich wollte sich Regierungschef Shinzo Abe an diesem Wochenende im Glanz des G20-Gipfels in Osaka sonnen und dann mit frisch gestärkter Popularität die Oberhauswahl im Juli ohne große Anstrengung gewinnen. Doch es kam anders. Aus heiterem Himmel warnte eine Expertenrunde im Auftrag der Finanzaufsicht FSA vor einer Rentenlücke. Bei einer Pensions- und Rentenbezugsdauer von 20 Jahren müsste ein verheiratetes Paar mindestens 13 Mill. Yen (über 100 000 Euro) und von 30 Jahren über 20 Mill. Yen (164 000 Euro) auf die hohe Kante gelegt haben, um den Lebensstandard zu halten. Die nachvollziehbare und kaum überraschende Botschaft dieser Zahlen an die Japaner lautete, sich finanziell besser für den finalen Lebensabschnitt zu wappnen.Doch für die Opposition war die Lücke ein gefundenes Fressen. Sie verlangte von der Regierung, die Expertenaussage offiziell zu übernehmen. Dies verweigerte Finanzminister Taro Aso. Schließlich verspricht die Regierung eine Gesellschaft, in der die Japaner ohne finanzielle Sorgen 100 Jahre alt werden können. Der Kapitalbedarf der Haushalte im Ruhestand sei “bis zu einem gewissen Grad” gedeckt – so wird die Rentenlücke euphemistisch kaschiert. Immerhin räumte Finanzminister Aso ein, der Bericht rufe “extreme Sorgen und Missverständnisse” hervor.Premier Abe wischte die konkreten Bedarfszahlen der FSA-Experten als “irreführend” vom Tisch. Die harsche Reaktion hängt mit einem wunden Punkt von ihm zusammen: Während seiner ersten, nur einjährigen Amtszeit ab 2006 stolperte Abe bei der Oberhauswahl im Juli 2007 über einen Skandal mit verloren gegangenen Belegen von Einzahlungen in die Rentenkasse. Wenige Wochen nach der Wahlniederlage musste er das Handtuch werfen. Zu einer Wiederholung dürfte es bei der bevorstehenden Oberhauswahl wegen der schlechten Verfassung der Opposition zwar kaum kommen. Aber die Liberaldemokratische Partei von Abe könnte ihre Zweidrittelmehrheit einbüßen. Dann müsste sich der Regierungschef für seine geplante Verfassungsreform noch Verbündete suchen. *Die Japaner erregt noch ein anderes Thema: Power Harassment, der Machtmissbrauch von Vorgesetzten, abgekürzt zu “Power Hara”. Dazu gehört die Praxis, unbezahlte Überstunden zu verlangen. Doch die alten Firmenkrieger, die “Salariman”, gehen in Rente, und die jungen Nachrücker wollen nicht mehr bis in die Puppen im Büro bleiben. Zu den aktuellen Quotenhits im Fernsehen gehört die Serie “Ich mache keine Überstunden! Punkt!”. Der Plot dreht sich um eine 30-jährige Frau, die dafür kämpft, pünktlich um 18 Uhr Feierabend zu machen.Viele Japaner lassen sich auch grundsätzlich nicht mehr von ihren Chefs schikanieren. Die Zahl der förmlichen Beschwerden von Angestellten über ungerechte und schlechte Behandlung bei der Arbeitsaufsichtsbehörde stieg binnen zehn Jahren um das Dreifache auf 72 000. In dem Klima gedieh auch eine Online-Petition gegen den Pumps-Zwang für Frauen in zahlreichen Berufen. Zehntausende Frauen forderten ein Gesetz, das Unternehmen verbieten soll, von ihren Mitarbeiterinnen das Tragen von Stöckelschuhen zu verlangen. Das Arbeitsministerium schürt das Bewusstsein für “Power Hara” mit nachgestellten Schikane-Szenen in Youtube-Videos. Im Mai wurde ein Gesetz gegen den Machtmissbrauch durch Vorgesetzte verschärft.Die Rebellion der Arbeitnehmer hat zwei Hauptgründe. Erstens betrachten jüngere Japaner ihr Unternehmen nicht mehr als ihre Familie. Früher durfte ein Vorgesetzter seine Untergebenen behandeln wie der strenge Vater seine Kinder. Das wird nicht mehr akzeptiert. Zweitens hat der starke Personalmangel die Machtverhältnisse umgekehrt. Wollen die Unternehmen ihre Mitarbeiter nicht verlieren, müssen sie sie besser behandeln. Eine Ehefrau löste vor Kurzem einen Shitstorm auf Twitter gegen den Arbeitgeber ihres Mannes aus. Sie hatte berichtet, der Chemiehersteller habe ihren Mann in eine andere Stadt versetzt, obwohl das Paar gerade ein Kind bekommen hatte und in ein neues Haus eingezogen war. Die Reaktion des Mannes war früher undenkbar: Er kündigte.