Apericena für alle
Notiert in Mailand
Apericena für alle
Der erweiterte Aperitif verdrängt vielfach das klassische Cena
Von Gerhard Bläske
Eine richtige Aperitif-Kultur wie in Frankreich, der Schweiz, in Österreich und vor allem in Italien gibt es in Deutschland leider nicht. Wer am frühen Abend einen Aperol oder Campari Spritz zu einem oft exorbitanten Preis bestellt, bekommt meist bestenfalls ein paar Chips oder Cracker dazu gestellt – wenn überhaupt.
Ganz anders in Italien. Da gehört der Aperitif, ähnlich wie der am Morgen meist im Stehen getrunkene „Caffè“ in der Bar, fast schon zum normalen Lebensalltag. Das liegt natürlich auch daran, dass das Land mit diversen Getränken, vom Wein über den Vermouth bis hin zu Campari und Aperol sowie deren Varianten etwa in Form des Negroni oder Americano, eine Vielzahl von einheimischen Angeboten im Sortiment hat. Es liegt aber auch daran, dass viele Italiener nach der Arbeit gern mit Kollegen, Freunden oder der Herzensdame bzw. dem Herzensmann noch ein Gläschen trinken gehen, um leidenschaftlich über die Pläne für das Wochenende oder die Zubereitungsvarianten bestimmter Gerichte zu diskutieren.
Schon seit einigen Jahren wird im Bel Paese eine Variante des Aperitifs angeboten, die mehr und mehr Anhänger auch unter den Touristen gefunden hat und den Bars, Caffès und Restaurants viele Gäste ins Haus spült. Angesichts des oft üppigen Angebots an Speisen, die dazu gereicht werden, wird das eigentliche Abendessen (Cena) dadurch häufig überflüssig. Apericena wird teilweise schon ab 17 Uhr angeboten, oft bis 22 Uhr. Das Wort setzt sich aus den Begriffen Aperitif und Cena zusammen und war ursprünglich vor allem für junge Leute eine ideale Alternative zum teureren Abendessen im Restaurant.
Das Konzept besteht darin, einen Cocktail oder irgendein Getränk nach Wahl zu bestellen. Das Essen gibt es dann praktisch „gratis“ dazu. Für alles zusammen zahlt man selbst in Großstädten dann in der Regel zwischen 8 und maximal 15 Euro.
In der Mailänder Studentenbar Bar Magenta etwa kostet das Apericena 9 Euro. Zum Drink gibt es ein riesiges Buffet mit Pasta, Salaten, Risotto, Panini, Fleischbällchen, Gemüse, Bruschette oder auch süßen Sachen – bis zum Abwinken. Die laute Musik und das viele Gewusel gefallen aber nicht jedem Gast – ebenso wenig wie die Warteschlange, die sich zu manchen Zeiten am Buffet bildet.
Im Genueser Caffè Balilla zahlt man 16 Euro und es geht deutlich ruhiger zu. Das am Platz servierte Essen erinnert eher an ein richtiges Abendessen: Frittiertes Gemüse, dann eine Focaccia, eine Pasta, eine Pizza und zum Abschluss ein Dolce (Dessert). Ein paar hundert Meter weiter, im Caffè del Teatro am zentralen Piazza de Ferrari, werden 12 Euro für eine umfangreiche Antipasti-Platte mit Fleisch- und Fischbällchen, Pizza-Stücken, Gemüse und anderem sowie anschließend Gnocchi mit Pesto fällig.
Jede italienische Stadt hat ihre eigenen Treffpunkte für das Apericena, das sich inzwischen landesweit durchgesetzt hat und etwa auch am Mercato dei Grani oder der Piazza della Loggia in Brescia, in der Turiner Drogheria und dem Arancia Mezzanotte, in Rom oder in Badeorten wie Viareggio, Rimini und Moneglia serviert wird. Längst sind es nicht mehr nur junge Leute, die das Apericena für sich entdeckt haben. Apericena ist quer durch alle Altersklassen und auch bei den Touristen sehr beliebt.
Für die Gastronomen scheint es sich zu lohnen – auch wenn die Gewinnspanne gering sein dürfte. Doch so mancher bestellt gern noch ein weiteres Getränk zum Normalpreis dazu, und die Lohnkosten sind niedrig.
Ganz allmählich setzt sich das Apericena auch anderswo durch, wobei Deutschland zu den Nachzüglern zählt – vermutlich auch deshalb, weil die Kosten höher sind und es keine wirkliche Aperitif-Kultur gibt. In Paris und Wien sind erste Lokale dieser Art eröffnet worden, und vielleicht setzt sich das Konzept mit den aus Italien zurückkehrenden Urlaubern irgendwann auch in Deutschland durch. Aber keine Angst. Es gibt in Italien immer noch mehr als genug klassische Restaurants mit attraktiven Essensangeboten.