Asoziales Netzwerk
Zehn Gründe, deine Nutzerkonten in den sozialen Medien sofort zu löschen”, lautet der Titel des neuen Buches von Jaron Lanier, einem US-Computerwissenschaftler und Pionier rund um Technologien für virtuelle Realität, der sich als Philosoph des Silicon Valley etabliert hat. Erschienen ist das Buch im Frühjahr, der historische Absturz der Facebook-Aktie in der vergangenen Woche, als das soziale Netzwerk an einem Tag 119 Mrd. Dollar Börsenwert einbüßte und damit zeitweise auch die anderen FANG-Titel Amazon, Netflix und Google sowie den gesamten Technologiesektor belastete, zählt also nicht zu den Gründen, die Lanier für eine Abkehr von den sozialen Medien aufführt.”Ich vermisse die Zukunft”, sagte Lanier, der in diesem Sommer auch der Digitalmesse Cebit in Hannover seine Aufwartung machte, vor einigen Wochen zum Zustand des Internets. Von den Idealen, die die Pioniere des World Wide Web mit dem Netz realisieren wollten, sei nichts übrig geblieben. Stattdessen habe das Internet “gigantische, globale Datenmonopsone” hervorgebracht. Konzerne wie Facebook oder Google mit ihrer Holding Alphabet verfügten mittlerweile über kolossale Kapazitäten zur Datenverarbeitung und nutzten sie für einen immer schneller wachsenden Informationsvorsprung, dessen Erträge sie für sich behielten, während die Risiken auf alle anderen abgewälzt würden.Die größten Risiken sieht Lanier in Verbindung mit den “Manipulationsmaschinen”, die seiner Auffassung nach im Kern von sozialen Medien wie Facebook und Google, ihren Töchtern Instagram und Youtube oder auch hinter Twitter und Snap stecken. Sie arbeiteten vor allem zum Vorteil von Werbekunden und im Zweifel auch im Sinne russischer Spione, sagt er mit Blick auf die mittlerweile vielfach dokumentierten Versuche staatsnaher russischer Akteure, die öffentliche Meinung vor der US-Präsidentschaftswahl 2016 zu manipulieren. Ähnliche Beobachtungen wurden auch vor der Abstimmung zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, vor Wahlen im Baltikum und längst auch in anderen europäischen Ländern gemacht. Die heute gültigen Anreizstrukturen des Internets hätten zur Folge, dass jede Interaktion zwischen zwei Nutzern von einem Dritten bezahlt wird, der sich erhofft, die anderen beiden manipulieren zu können, sagt Lanier. Er ist deshalb Verfechter einer neuen Informationsökonomie für das Internet, die Daten als Arbeit betrachtet. Menschen, die Inhalte über die sozialen Medien teilen, sollten für jeden Beitrag bezahlt werden. Bis es aber so weit ist, gibt es noch einen Grund mehr, den sozialen Medien den Rücken zuzukehren. Die Kritik des Internetphilosophen passt zu den jüngsten Entwicklungen an der Börse, wo Investoren nicht nur Facebook, sondern auch den deutlich kleineren Konkurrenten Twitter gerade um mehr als ein Fünftel zurückgesetzt haben und Google trotz herausragender Zahlen in der vergangenen Woche kaum positive Impulse geben konnte. Die beiden sozialen Netzwerke rutschten ab, weil sie mit ihrem Nutzerwachstum nicht überzeugen konnten und im Werbegeschäft den wachsenden politischen Druck zu spüren bekommen. So verzeichnete Facebook in Europa nach eigenen Angaben das mit Abstand geringste Wachstum ihrer Werbeumsätze, weil die seit Ende Mai geltende Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union bereits erste Wirkung entfaltet. Twitter hat derweil nicht zuletzt auf Druck von Behörden begonnen, sogenannte Fake-Accounts auf ihrer Plattform zu löschen, was laut jüngsten Prognosen auch im laufenden Quartal zu einem Nutzerrückgang führen wird.Das Ende des Erfolgslaufs von sozialen Medien an der Börse oder gar der ganzen FANG-Gruppe, die auch in diesem Jahr einen großen Teil der Gewinne im S & P 500 beigetragen hat, ist mit der Korrektur der vergangenen Tage aber nicht eingeläutet. Bei Amazon und Netflix atmen Investoren auf Höhe der aktuellen Bewertungen zwar dünne Luft. Facebook sieht nach dem Kursrutsch der vergangenen Woche dagegen fast wie ein Schnäppchen aus, solange sich Regulierer und Wettbewerbsbehörden nicht die düstere Prognose des Internetphilosophen Lanier zu Herzen nehmen. Er ist überzeugt, “dass eine Gesellschaft sich nur dann Hoffnungen auf das Überleben machen kann, wenn es zwischen den gesellschaftlichen Interessen und den ökonomischen Anreizstrukturen wenigstens in Teilen eine gleiche Ausrichtung gibt”. Für Investoren sprechen derzeit trotzdem mehr Gründe für als gegen die sozialen Medien.—–Von Stefan ParaviciniDas soziale Netzwerk Facebook hat an der Börse eine historische Klatsche kassiert. Auch die gesellschaftlichen Folgen seines Geschäfts stehen in der Kritik.—–