LEITARTIKEL

Auf brüchigem Eis

Das 16-prozentige Absatzplus in Europa im September ist kein Befreiungsschlag für die verunsicherte Automobilbranche, sondern nur dem Sondereffekt geschuldet, dass im Vorjahresmonat wegen der Einführung des neuen Prüfzyklus WLTP viele Modelle nicht...

Auf brüchigem Eis

Das 16-prozentige Absatzplus in Europa im September ist kein Befreiungsschlag für die verunsicherte Automobilbranche, sondern nur dem Sondereffekt geschuldet, dass im Vorjahresmonat wegen der Einführung des neuen Prüfzyklus WLTP viele Modelle nicht verfügbar waren. Die Autoindustrie hangelt sich weiter von Quartal zu Quartal. Die Ausblicke sind zuletzt angesichts steigender Kosten bei sinkender Nachfrage aus den Hauptmärkten China, Westeuropa und USA regelmäßig nach unten korrigiert worden. Bei der erhofften Trendwende im weltgrößten Automarkt China tut sich seit eineinhalb Jahren praktisch nichts. Der Branche ergeht es da wie dem Eisbrecher “Polarstern”, der sich bald im Packeis eingefroren nur mit der Drift des Eises bewegen wird. Während sich das deutsche Forschungsschiff aber freiwillig in diese Lage bringt, um neue Erkenntnisse zum Weltklima zu erlangen, haben fehlende Erkenntnisse zum politischen Weltklima die Autoindustrie erst in ihre derzeit missliche Lage gebracht.So ist der Handelsstreit zwischen den USA und China grundsätzlicher und dauert länger, als die Branchenoberen in ihrer ersten Reaktion angenommen hatten. Zwar war die Einschätzung zutreffend, dass ein Handelskrieg allen Beteiligten wie auch unbeteiligten Dritten schaden würde. Das lässt sich längst sichtbar an den Konjunkturdaten rund um den Globus ablesen. Doch die Schlussfolgerung, deshalb werde es sicher nicht zum Äußersten kommen, hat sich als ebenso naiv erwiesen wie vergleichbare Einschätzungen zur Gefahr eines ungeordneten Austritts von Großbritannien aus der Europäischen Union.Auch die Heftigkeit der Klimadebatte wurde zumindest von Teilen der Branche eklatant unterschätzt. Zwar sind die meisten Hersteller bemüht, wie man auf der Branchenmesse IAA in Frankfurt beobachten konnte, ihrem Image einen ordentlichen Grünanstrich zu verpassen. Sei es durch Bürgerdialoge, Treffen mit grünen Politikern oder einfach, indem das Scheinwerferlicht während einer Branchenmesse auf batterieelektrische und hybrid angetriebene Autos und dabei verwendete Technologien gelenkt wurde. Dass dies bei den ärgsten Kritikern nicht verfangen würde, war indes klar. Denn der Vorwurf, die Autobauer erwirtschafteten vor allem mit dem Absatz sprithungriger immer größerer SUVs ihre Margen, ist so korrekt wie ungerecht. Denn natürlich verdienen sie deshalb damit so gut, weil die größeren Autos bei den Kunden gefragt sind – nicht nur in Deutschland und den USA, sondern mittlerweile längst auch global. Wenn Miniaturisierung bei Autokäufern so gut ankäme wie bei Smartphonekäufern, wäre bei VW der Up wohl teurer als der Tiguan. Nicht nur die Kosten bestimmen den Preis. Der realistisch erzielbare Preis bestimmt vielmehr, was ein Auto kosten darf.So ist die Branche zerrissen zwischen dem Anspruch von weiten Teilen der Gesellschaft und Politik auf der einen Seite, die den Fokus auf die Senkung der Emissionen legen, und ihren Kunden auf der anderen Seite, die offensichtlich doch oft ganz andere Prioritäten setzen und zudem weniger Autos erwerben als in den vergangenen Jahren. Hinzu kommen die Anteilseigner, die zumindest bei den börsennotierten Gesellschaften zunehmend eine aktive Portfolioentflechtung wünschen, um künftige Werte schon heute zu heben. Dabei wäre eine Risikostreuung in Zeiten von Unsicherheit, wie sie derzeit in der Branche vorherrschen, eigentlich die von Kreditanalysten empfohlene Strategie.Die Branchenvertreter dürften sich fühlen wie auf auseinanderdriftenden Eisschollen. Wer sich nicht bewegt, klatscht ins Eiswasser, wer sich zu schnell oder in die falsche Richtung bewegt ebenso. Der einzig sinnvolle Weg scheint vielen Unternehmen daher, sich auf das unausweichliche Eisbad bestmöglich vorzubereiten. Ob Daimler, Bosch, Continental oder Leoni: Überall wird – in unterschiedlicher Intensität – an der Sparschraube gedreht. Aber auch diese Strategie ist nicht ohne Risiko. Zu glauben, die Mitarbeiter in einer Zeit einer womöglich historischen Technologiewende folgenlos mit Sparrunden verunsichern zu können, könnte sich im Nachhinein als ähnlich naiv erweisen wie die Einschätzungen zu den weltweiten Handelskonflikten. Das Eis, auf dem die Autobranche derzeit navigieren muss, sieht sehr brüchig aus. Und auch die September-Absatzzahlen, die nur in Europa und einzig aufgrund eines negativen Sondereffekts im Vorjahr positiv ausfielen, geben keinen Anlass, zu glauben, dass sich daran auf absehbare Zeit etwas ändern könnte.——Von Sebastian SchmidDie Hoffnung, dass die Schwäche am Automarkt nur kurz dauert, schwindet. Das Vertrauen in die Prognosefähigkeit der Branche hat allerdings zuletzt gelitten.——